Die Gefahr des Bösen, die Lust am Bösen. Über die Gewalt in den Medien

Jan-Uwe Rogge

1. Ein Blick zurück ist ein Blick in die Gegenwart

Durch das Lesen, schreibt der bekannte Schulreformer Johann Heinrich Campe 1789, ginge der Einfluss reiner sittlicher Grundsätze verloren. Und Campe überlegt, "ob man einem großen Teil von Menschen noch anraten soll, lesen zu lernen". Bücher werden als "literarische Bordelle", die Buchproduktion als "Sintflut" charakterisiert. Während sich Campes Aufmerksamkeit auf die Buchproduktion trivialer Werke konzentrierte, legte man das Augenmerk im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert zunächst auf die Schundliteratur, dann auf den Film, die für gesellschaftliche Fehlentwicklungen und die kriminelle Gefährdung von Heranwachsenden verantwortlich gemacht wurden. Der Soziologe Ernst Schulze schreibt zu Beginn dieses Jahrhunderts: "Es liegt ja auf der Hand, dass die Schundliteratur schon infolge der Wahl ihrer Worte Wirkungen der schlimmsten Art ausüben muss. Schildert sie doch niemals etwas anderes als Verbrechen aller Art - je blutiger und roher, desto besser, daneben Hinrichtungen und andere Dinge, die den Blutdurst des Lesers und seine Sinnlichkeit anstacheln sollen." Dass solche Mutmaßungen nicht Spekulationen sind, beweist der Autor "schlüssig" durch folgende Begebenheit: "Der 15-jährige Kochlehrling Wilhelm Rütting in Berlin erschoss seinen Koch, auf den er seinen Zorn geworfen hatte, die beständige Lektüre der Verbrecher- und Detektivhefte und ähnlicher Erzeugnisse der schlechten Literatur hatten seine Phantasie so mit Vorstellung erfüllt, dass er zum Revolver greifen musste, dass er es schließlich tat." Und fast 90 Jahre später sind es Fernsehen, Video und Computerspiele, die als kleinster gemeinsamer Nenner herhalten müssen, wenn es darum geht, brutale Gewalt an und von Jugendlichen, Vandalismus im Alltag, menschenverachtende Ausschreitungen zu erklären. Da heißt es in einer Boulevardzeitung: "In M. hatte die 26-jährige Z. ihren Liebhaber ermordet, dann zerstückelt, gekocht, gebraten und in 41 Dosen tiefgefroren. In ihrer Wohnung fand die Polizei 150 Videokassetten, darunter die schlimmsten Kannibalenfilme." Seit mehr als 200 Jahren fällt auf: In vielen öffentlichen Diskussionen überwiegen grob vereinfachende Sichtweisen. Man sucht nicht nach vielfältigen Rahmenbedingungen, um gefährliche Auswüchse zerstörerischer und brutaler Gewalt zu ergründen, man sucht nach Sündenböcken. Und die sind fix zur Hand: die Gesellschaft, die Politik, die Medien usw. usw. Jeder und jede schlägt - so scheint es - auf den Sündenbock ein, der am besten passt.

Es geht mir bei diesem kurzen historischen Rückgriff nicht um ein "Es war halt immer schon so" oder gar um eine Verharmlosung der Einflüsse von Massenmedien, sondern darum, die Faszination von Gewalt in den Medien, die manche Kinder und Jugendliche regelrecht in den Bann schlägt, genauer zu deuten und zu bestimmen. Um nicht missverstanden zu werden: Mich schaudert, wenn ich die manchmal grässlichen wie gewaltverherrlichenden Medienangebote betrachte. Doch zugleich bin ich besorgt über die populistischen Töne, mit denen man darüber diskutiert. Wenn man aus den abgezählten Fernsehleichen eine Zunahme zerstörerischer Gewalt im Alltag ableitet, dann ist das nicht allein kurzschlüssig, sondern vor allem verharmlosend. Aber leichtfertig ist zugleich, jeglichen Einfluss von medial dargestellter Gewalt zu leugnen, denn Gewalt in den Medien macht eben nicht friedlich. Es gibt keine einflusslosen Bilderwelten. Und borniert ist es darüber hinaus, wenn ständig behauptet wird, über die Einflüsse medialer Gewalt wisse man nichts Genaues. Meiner Forderung nach einer genauen Betrachtung darüber, wie sich Gewalt in den Medien auswirkt und was daran fasziniert, geht es nicht darum, zu verharmlosen. Es kommt vielmehr darauf an, jene sozialen wie individuellen Bedingungen von Heranwachsenden zu benennen, unter denen sich Gewaltdarstellungen problematisch auswirken dürften. Und dann wird schnell deutlich: Gewalt in den Medien und die Darstellung des Bösen stellt keine Ursache für zerstörerische Gewalt oder den Einzug des Bösen in das Alltagsleben dar - aber Gewalt in den Medien kann problematische Lebenseinstellungen durchaus verstärken. Um die Bedeutung und den Einfluss der Gewaltsymbolik in den Medien zu verstehen, muss man sich auf die Heranwachsenden einlassen, stellt die Faszination des Bösen und die Flucht in die Gewalt der Bilderwelten doch nicht selten den Versuch von Jugendlichen dar, Aufmerksamkeit zu erlangen oder um Hilfe zu rufen.

2. Von der Lust am Schrecken

Horrorfilme sind der klassische Beweis für die Darstellung des Bösen in den Medien. Und darüber hinaus sind sie Bestandteile einer Jugendkultur. Über ihren Gebrauch lässt sich Eigenständigkeit und Autonomie ausdrücken. Horrorfilme grenzen Erwachsene aus und schockieren sie. Peter, 17 Jahre: "Mit Eltern will ich darüber nicht reden. Das ist mein Ding". Und Peter weiter: "Die stören nur. Dann kann ich das nicht richtig genießen". Der Horrorfilm dient einer selbstbestimmten Grenzziehung. Dabei ist das Erschrecken, sind die Reaktionen der Erwachsenen kalkulierter Part der Stilfindung. Tom, 14 Jahre, drückt es so aus: "Sie müssen sich mal diese Frankensteingesichter von Erwachsenen ansehen, wenn die hören, man hat das und das gesehen. Da sie solche Filme nicht kennen, können wir so richtig aufschneiden. Dann müssen Sie mal die Augen sehen, die immer größer werden, oder wie die Kinnladen dann runterklappen. Wir nennen das ‚Erwachsene erschrecken'". Und auch eine verständnisvoll-akzeptierende Haltung von Erwachsenen wird unterlaufen. "Unsere Lehrerin", erzählt die 15-jährige Susanne, "ist schon in Ordnung. Die hat für alles Verständnis und hat sich neulich sogar einen Zombi-Film mit uns angeguckt. Und dann hat sie uns das erklärt, wie das so ist, mit dem Voodoo-Kult und so. Nett, aber eigentlich ganz fürchterlich. Ja, und dann haben wir einen drauf gesetzt, haben was von Pornos erzählt, so richtig sadistische Sachen, und wir haben ihr so richtig schlimme Ausdrücke um die Ohren geschmissen. Da ist sie völlig ausgeflippt. Die war echt fertig". Das Einlassen von Erwachsenen auf jugendkulturelle Stile erfordert nicht allein Empathie, Anteilnahme oder ein Sich-hinein-Versetzen, jugendkulturelle Ausdrucksweisen verlangen von Erwachsenen, dem Heranwachsenden unbeobachtete Räume und selbstbestimmte Zeiten zur Verfügung zu stellen. Nur so ist ein selbstbestimmter Findungsprozess möglich.

Aber über die Lust am Bösen wird noch etwas anderes ausgedrückt: "Zombies find' ich total gut", meint Kai, 15 Jahre, "aber diese Filme, wo sie welche zerstückeln, damit kannst du mich jagen". Und der gleichaltrige Jörg findet: "Ich geh' immer bis an die Grenze, wo ich gerade kotzen muss. Aber kurz davor hör' ich auf". Jugendkulturelle Ausdrucksformen und Körpererfahrungen gehören eng zusammen. Über und durch den Körper drücken sich Jugendliche aus. So lassen sich an der Sprache und der Inszenierung des Körpers widersprüchliche Entwicklungen während der Pubertät konkretisieren. Jugendliche begreifen den Horrorfilm nicht vom Kopf her, sie erleben ihn vielmehr ganzheitlich. Vor allem die Musik und die Geräusche lassen intensive Wahrnehmungsformen zu, eine Einheit von Erleben und Handeln. So wie die Rock-Musik - laut gehört - ein Selbsterleben gestattet, so hält der Horrorfilm ausdrücklich eine Erinnerung an körperliche Bedürfnisse wach. Jugendliche sind aber in einem häufig unförmigen Körper, der sich in einer Umstrukturierung befindet und weder Fisch noch Vogel, stark noch schwach, weder ganz schön noch vollkommen hässlich ist. Körperfindung gelingt aber nur, wenn jemand an Grenzen stößt, sie überschreitet, sie spürt. Körperliche Erfahrungen machen viele Jugendliche deshalb über Negation. Vor allem "Zombie"- und "Werwolf"-Filme gestalten körperliche Realität von Pubertierenden. Sie geben den problembeladenen Entwicklungsschritten eine symbolische Form: Denn auch die Körper von Zombies und Werwölfen sind nicht beständig. Zombies schweben zwischen Leben und Tod, Werwölfe sind zerrissen zwischen Mensch und Tier, zwischen Zivilisation und Triebhaftigkeit. Dies ist weder eine pädagogische Rechtfertigung noch eine psychologische Fundierung solcher Produktionen. Es geht mir hier ausschließlich darum, Entsprechungen zwischen den Bedürfnislagen während der Pubertät und den thematischen wie dramaturgischen Strukturen in den Horrorfilmen, der Faszination des Bösen herzustellen.

Darum geht es Jessica, 14 Jahre, nicht. Sie umschreibt die Faszination, den Thrill, den solche Filme auf sie ausüben, so: "Irgendwie sind die unheimlich spannend, diese Monsterfilme. Ich geh' da mit meinen Freunden. Irgendwie ist es 'ne Herausforderung. Ich weiß nicht, so wie Achterbahn fahren. Das ist eine Mutprobe. Und ich mach' das ja nur, weil das gut ausgeht". Jessica setzt sich einer angstbesetzten Situation aus. Diese wird deshalb als lustvoll erlebt, weil das Subjekt mit seinen Ängsten umgehen lernt, sie besteht und gestärkt daraus hervorgeht. Gleichwohl sind die Gefahren einer gefühlsmäßigen Überforderung nicht von der Hand zu weisen. Damit der Thrill als lustvoll erlebt wird, müssen drei Aspekte zusammentreffen. Fehlt ein Element, kann es zu erheblichen gefühlsmäßigen Verunsicherungen kommen. Die Bestandteile des Thrills oder auch der Angstlust sind:

  • Der Jugendliche setzt sich freiwillig einer Gefahr aus.
  • Für den Jugendlichen muss das Gefühl einer objektiven Gefahr vorhanden sein, z.B. durch das Hineinversetzen in einen Helden. Der Jugendliche spielt oder wiederholt in der Phantasie das, was Abbild einer Gefahr ist.
  • Schließlich muss es ein positives Ende geben, sei es durch das Zurückführen des Spannungsbogens, das Überleben des Helden oder die Zerstörung des Bösen.

Diesen Strukturelementen entsprechend verläuft Angstlust in drei Phasen: Auf den Erregungsaufbau, einem allmählichen In-denBann-gezogen-werden, folgt der Erregungsgipfel. Dabei können mehrere dramaturgische Erregungsgipfel nacheinander geschaltet sein. Unabdingbar ist ein abschließender Abbau der Erregung. Die Emotionsforschung hat dabei gezeigt, dass der Spannungsabbau nach einem intensiven Thrill, einem Nervenkitzel als besonders angenehm empfunden wird. Da die Mehrzahl der Horrorfilme nach dem Prinzip der Rettung in letzter Minute aufgebaut ist, laufen der dramaturgische und der physiologische Spannungsabbau nicht synchron. Der Körper braucht erheblich länger, um sich vom Nervenkitzel zu beruhigen. Deshalb nehmen Nachgespräche im Anschluss an das Sehen eine so bedeutsame Funktion ein. Hier wird quasi spielerisch das wiederholt, was verängstigt und geschockt hat.

3. Das Böse ist böse, das Gute ist gut

Tilmann, 6 Jahre, ist stolzer Besitzer von Monsterfiguren, insbesondere jener aus der Serie "Masters of the Universe". Er lässt sie sich schenken - von der "He Man"-Oma wie er sie nennt, weil diese ihm solche Figuren kauft. Ich brauchte Figuren für eine Fortbildungsveranstaltung und bat ihn um Mithilfe. Er ging mit mir in einen Supermarkt: "Hier sind sie am billigsten, und dann zeige ich dir die Figuren, an denen du den Kindergärtnerinnen das meiste zeigen kannst". Wir gingen zu einem Regal, das voll von Horrorfiguren war. Er wählte fachmännisch aus, verglich die Preise: "Kauf' den Hordak nicht hier, der ist woanders billiger". Bald waren wir von Kindern umringt, die Tilmann bestaunten. "Darfst du das alles kaufen?" fragte einer. "Na klar!" antwortete er selbstbewusst. Der Einkaufswagen war schnell zur Hälfte voll. An der Kasse trafen wir zufällig eine Tilmann bekannte Mutter: "Hallo, guck mal". Die Mutter lächelte Tilmann an. Als der Blick auf den Wageninhalt fällt, erschrickt sie: "Was hast du denn da?" Tilmann schmunzelt sie an: "Ich mach' 'ne Geburtstagsparty, und dafür brauch' ich die". Als wir gehen, lacht er über seinen Scherz und die Verblüffung, die er mit seiner letzten Bemerkung ausgelöst hat. Horrorfiguren sind für Tilmann wichtig, sie nehmen Zeit und Raum seines Spiels ein - zugleich ist er vielseitig interessiert, in zahlreiche Freizeitaktivitäten einbezogen. Tilmanns Mutter findet die Figuren "nicht gut. Ich kauf' ihm grundsätzlich keine". Sie gestattet ihm den begrenzten Umgang, greift nur ein, wenn "es überhand nimmt oder er damit stört. Und er muss akzeptieren lernen, dass andere die Figuren nicht leiden können. Das heißt ja nicht, dass sie ihn dann nicht mögen". Tilmann findet die Figuren "geil, weil ich damit spielen kann". Mit den Figuren beschäftigt er sich zumeist allein, er kämpft, er inszeniert Situationen und "Schlachten". Tilmann hat mir die Figuren immer und immer wieder erklärt, hat große Nachsicht bewiesen, weil ich Schwierigkeiten hatte, die bösen von den guten Figuren zu unterscheiden, mir Namen und Funktionen nicht merken konnte. Ich darf beim Spiel zuschauen, ihn interviewen - nur das Mitspielen gestattet er mir nicht: "Dafür bist du zu alt", erklärt er mir einmal. Ich habe Tilmann häufig beim Spiel beobachtet. Das stört ihn kaum, weil er still in sein Spiel vertieft ist.

Über die Funktion und die Bedeutung solcher Figuren herrschen - durchaus nachvollziehbare - Missverständnisse vor: Sie machen phantasielos oder sie machen gewalttätig, sie fördern Unfrieden oder würden eine moralische Entwicklung bei Kindern nicht voranbringen, so lauten die häufigsten Vorurteile.

Die Faszination solcher Horror- und Phantasiefiguren liegt - aus der Sicht von Kindern - in vielerlei Facetten begründet: Das Spiel mit den Figuren unterhält. Das Spiel ruft Bilder, Träume und Wünsche hervor. Das Spiel erzeugt Gefühle, Ängste und Unsicherheiten. Das Spiel spiegelt Sehnsüchte. Das Spiel weckt Neugier, bietet Orientierung und weist auf Lösungen hin. Das Spiel drückt innere Wirklichkeiten von Kinder aus, es deutet auf Entwicklungsschritte, ungelöste kritische Lebensereignisse oder unbewältigte Alltagserfahrungen hin. An und mit den Figuren probiert ein Kind stellvertretend aus, was es sich noch nicht getraut oder wo es der äußeren Wirklichkeit noch nicht standhält.

Den Kindern sind die Figuren ein Medium der spielerischen Auseinandersetzung, ihnen ist meist klar, was und wer gemeint ist: gut oder böse, mächtig oder ohnmächtig, stark oder schwach. Differenzierungen gibt es nicht, Eindeutigkeit feiert Triumphe. In der vorproduzierten Welt der Action-Figuren sind Raum und Zeit aufgehoben, Magie und Mythos sind allgegenwärtig. Die Action-Figuren spiegeln unbewusst, aber doch eindringlich kindliche Alltagserfahrungen wider: Die Macht-Ohnmacht-Relation des kindlichen Alltags ist in der Verbindung von Gut und Böse symbolisch dargestellt. Und auch das von Kindern inszenierte Spiel weist symbolisch-magische Züge auf: He Man, der Gute, repräsentiert das eigene übermächtige Ich, er kämpft mit Skeletor, der Verkörperung des Schlechten. Wenn Tilmann, in der Rechten den He Man und in der Linken Skeletor haltend, beide miteinander kämpfen lässt, so streitet er unbewusst mit sich selbst. Bei diesem Kampf stirbt niemand, keiner wird verletzt. Der Kampf ist Ritualen unterworfen, er gibt Tilmanns innere Wirklichkeit wieder. Das Böse siegt nicht. Denn die geheime Botschaft des Spiels lautet: "Auch wenn ich manchmal böse bin, so bin ich trotzdem o.k". Oder: "Auch wenn die Eltern mal böse sind, mag ich sie dennoch". Das Spiel stellt eine Möglichkeit dar, sich mit seinen ganzen Persönlichkeitsanteilen - den guten wie den bösen - anzunehmen. Das Kind wiederholt in seinem Spiel mit den Figuren Gewalterfahrung, es durchlebt Gefühle von Rache und Vergeltung. Aber: Im Spiel kann es Zerstörung, kann es Vernichtung ungeschehen machen. Tilmann hebt den am Boden liegenden Skeletor, ja die ganze Armee der Bösen auf, gibt ihnen erneut Gelegenheit, sich mit He Man, dem Guten, auseinanderzusetzen. Aggressionen dienen in diesem Moment nicht der Vernichtung, sondern der Selbständigkeit, der Selbstbehauptung und der Autonomie. Und wenn Tilmann mir erklärt, ich dürfe deshalb nicht mitspielen, weil ich zu groß sei, so weist er - unbewusst - darauf hin, dass Erwachsene andere, reifere Formen besitzen sollten, um Aggressionen und Autonomie auszudrücken, Kinder müssen allmählich lernen, polare Denkweisen und Beurteilungen aufzugeben, die guten wie bösen Anteile in sich zu akzeptieren. Dies vollzieht sich in einem Entwicklungsprozess. Wer das von Vorschul- und jüngeren Grundschuldkindern rückhaltlos und ohne jede Einschränkung fordert, der überfordert sie, hemmt sie möglicherweise in ihrer Entwicklung. Zunächst erleichtern es polare Gestaltungen und Dramaturgien dem jüngeren Kind, Unterschiede zu erfassen. Ein Sich-Einlassen auf polare Figuren - ob im Märchen, Buch oder Film- muss Kinder moralisch keineswegs verwirren - wie auch, entspricht doch Polarität ihrer Weltsicht. Bei der Beurteilung durch die Erwachsenen zeigt sich, wie wenig Kinder manchmal in ihrem Hier und Jetzt angenommen werden, wie kindliches Verhalten nur unter zukünftigen Gesichtspunkten - ich möchte nicht, dass mein Kind böse wird - beurteilt wird. Kinder sollen wie kleine Erwachsene handeln und differenziert beurteilen können. Kinder identifizieren sich mit "guten" Figuren nicht deshalb, weil sie "gut" sind, sondern weil sie von Kindern als "gut" gedeutet werden. Kinder erfahren, erleben und nehmen die Welt subjektiv wahr. Antworten auf Kinder bedrängende Fragen sind für sie nur dann überzeugend, wenn diese im Rahmen ihres Wissens, ihrer Gefühle ablaufen. Je reifer ein Kind wird, umso weniger hält es an infantilen Problemlösungen fest. Je jünger es ist, umso wichtiger ist ein magisches Denken, je unsicherer Kinder sind, umso bedeutender sind zunächst mythische Mächte. Action-Figuren helfen - nicht selten in Ermangelung möglicher wirklicher personaler Alternativen. Dies ist den Kindern, die mit den Figuren spielen, nicht bewusst, gleichwohl gilt das Unbewusste als eine - so Bruno Bettelheim - mächtige Determinante im kindlichen Verhalten. Solange unbewusste Phantasien, Träume und Wünsche in einem Spiel bearbeitet werden können, solange können Eltern jene Zeichen deuten, die die Kinder setzen und die für sie momentan wichtig sind.

4. Vom Teufelskreis der Gewalt oder harmlose Medien gibt es nicht

Arthur, 17 Jahre, ist Berufsschüler, lebt auf dem Lande, gilt als der Schrecken des Dorfes. Freitags und samstags fährt er mit seinem Moped in die nächste Stadt, holt sich Videos, "meist so Rambo-Dinger oder so, da wo einer kämpft, ganz alleine ist, der wo sich beweisen muss. Den zieh' ich mir rein, mal zwei-, dreimal hintereinander." In einem anderen Gespräch erzählt er mir: "Von diesen Dingern, von diesen Filmen eben, kann ich voll was lernen, mehr als in der Schule. Da geht's zur Sache. Entweder du überlebst oder gehst unter. Ist doch ganz einfach!" Er macht eine kurze Pause: "Ich bin ganz kurz vorm Untergehen. Die Blasen steigen schon auf". Arthur haut mit der Faust auf den Tisch: "aber bevor ich abgeh', mach ich noch was auf. Die sollen merken, was sie für'n Scheiß gebaut haben". "Wer sind ‚sie'?" "Alle!" schreit er, "alle!" Arthur ist für seine Gefühlsausbrüche gefürchtet. "Mal", so erzählt seine Mutter, "schläft er nach diesen brutalen Filmen gleich ein, wie ein Baby liegt er dann da. Aber dann", sie zögert, "wenn ich dann das Moped hör', wie er nach solchen Filmen wegfährt, dann weiß ich, jetzt gibt's Ärger. Ich kann ihn wieder bei der Polizei oder bei der Feuerwehr abholen". Immer wenn Arthur etwas getrunken hat, wird Rambo "so als ob er bei mir steht und sagt: ‚Komm, komm, Arthur, du musst kämpfen'". Arthur fährt dann etwas außerhalb des Dorfes, klettert auf einen Starkstrommast, hat seinen "Bluster" mitgebracht und spielt Kassetten, meist Songs von Peter Maffey. Bekommt er keine Aufmerksamkeit, kann es passieren, dass er wieder herunter klettert. Kommen Dorfbewohner, fängt er an, diese zu beschimpfen, zu beleidigen, verbunden mit der Drohung, hinunterzuspringen. Erst wenn sein Lehrer, der auch Leiter der örtlichen Feuerwehr ist, kommt, entspinnt sich ein Gespräch, ist Arthur bereit, hinabzusteigen. Das Ritual wiederholt sich in regelmäßigen Abständen. Arthur stellt sich als Außenseiter dar, "und das ist gut so. Nur als Außenseiter bist du wer. Da nehmen sie dich noch ernst".

Wenn ich mir die Vielfalt der durchgeführten Interviews mit Heranwachsenden ansehe und nochmals auswerte, dann wird mir die Oberflächlichkeit und Abstraktheit klar, mit der einerseits an vereinfachenden Wirkungsketten - mediale Gewalt erzeugt Gewalt - festgehalten wird, andererseits aber so getan wird, als ob es eine einfluss- und wirkungslose Form medialer oder personaler Kommunikation gibt. Auf der Basis der von mir durchgeführten Interviews lassen sich einige Trends zusammenfassen:

  • Ängstliche und verunsicherte Jugendliche und Jugendliche mit wenig Selbstwertgefühl haben eine Vorliebe für Action-Filme, in denen sich der einzelne Held im Kampf bewähren muss. Solch Medienangebote werden zur psychischen Prothese, die man braucht, um sich zu stabilisieren.
  • Gefühlsmäßig leere Jugendliche nutzen Medien zur Flucht: Nur über sie setzt man sich mit der Realität auseinander. Man braucht und gebraucht Medien, weil man sich in ihnen wiederfindet. Nur sie geben Verlässlichkeit, Orientierung, Vertrauen, nur sie stiften Sinn in einer Nahwelt, die keine Sinn mehr vermittelt.
  • Eine Persönlichkeitsbildung, die über die Auseinandersetzung mit zerstörerischer Gewalt des Medienhelden läuft, bleibt häufig nur negativ. Identität wird nur über Ausgrenzung hergestellt und medial dargebotene Aggression wird nur als Zerstörung und Vernichtung, nicht als lebenserhaltende konstruktive Komponente vorgestellt. So lässt sich Selbstwert und Verlässlichkeit nicht aufbauen.

5. Spiel mir das Lied vom Tod

Die Situation: Ein Klassenraum in einer Realschule. Peter, Mike und Jan, drei 15-jährige Realschüler, haben nach Beendigung des Unterrichts den 14-jährigen Torsten zu sich eingeladen. Torsten gilt als Außenseiter in der Schule. Er fühlt sich ob des Treffs geschmeichelt. Auf Wunsch der drei Jungen hat er eine Gitarre mitgebracht, um ihnen etwas vorzuspielen. Peter, Mike und Jan wollen Torsten, "diesen Arsch" "aufziehen", "ihm einen beipulen". Torsten nimmt Platz. Er sitzt auf einem Stuhl, hat den dreien den Rücken zugewandt. Peter hat ein Würgeseil mitgebracht, um "ihn zu ärgern, ein bisschen fertig zu machen". Peter fordert Torsten auf, "spiel uns das Lied vom Tod". Als dieser die ersten Akkorde beginnt, steht Peter auf, legt Torsten blitzschnell das Seil um den Hals, zieht dieses zu. Torsten ist völlig überrascht, beginnt, sich reflexartig zu wehren, fällt zu Boden, schlägt mit dem Kopf an ein Tischbein, wird ohnmächtig. Peter hat das Seil weiter in der Hand, während Mike Torsten mit voller Wucht in den Bauch tritt. Jan verliert die Nerven, rennt weg, läuft zum Hausmeister, der herbeieilt, eingreift, schließlich Hilfe holt und die Polizei alarmiert. Torsten kommt mit einem Schädelbruch und Prellungen ins Krankenhaus. Am nächsten Tag steht in der Lokalzeitung: "Spiel uns das Lied vom Tod. Western und grausame Realität". Der Untertitel der Schlagzeile lautet: "Westernhelden waren ihre Lieblinge". Die Berichterstattung legt - implizit - zwei Theorien über die Wirkung medialer Gewalt nahe:

  • Die Stimulationsthese, wonach die Rezeption von Mediengewalt die Bereitschaft fördere, selbst aggressiv wie zerstörerisch zu handeln bzw. Gewalt zur Durchsetzung eigener Zeile einzusetzen.
  • Die Habitualisierungsthese, wonach das wiederholte Ansehen von Medienbrutaltität zur gefühlsmäßigen Abstumpfung und zur Gewöhnung an alltägliche Gewalt führe, letztlich die Fähigkeit fördere, mit Gewalt zu agieren, um eigene Interessen zu verfolgen.

Beide Theorien haben ein reduktionistisches Menschenbild, lassen die Komplexität menschlichen Handelns außer Acht, interessieren sich nicht für Relevanz subjektiv konstruierter Medienwelten. Gleichwohl nehmen Stimulations- und Habitualisierungsüberlegungen - wohl gerade wegen ihrer augenscheinlichen Plausibilität - in der öffentlichen wie veröffentlichten Meinung einen nicht zu unterschätzenden Stellenwert ein, prägen die jugendschützerischen und medienpolitischen Diskussionen und Vorhaben nachhaltig. Gerade weil beide Theorien die Alltäglichkeit und die Subjektivität medienbezogener Aktivität ausblenden und die Intentionalität menschlichen Handelns nicht wahrhaben wollen, sind sie auf Alltagsverhältnisse nicht zu übertragen. Die beiden Theorien interessieren sich nicht für Hintergründe, für individuelle wie gesellschaftliche Rahmenbedingungen. Wie wichtig es ist, diese zu erfassen und verstehend zu deuten (Was ja nicht mit Akzeptanz zu verwechseln ist!), zeigen Gesprächsausschnitte mit den drei Jugendlichen:

  • Zunächst zu Peter: Er ist der Klassenbeste, gilt als intelligent und "cooler Typ". Peter erzählt u.a.: "Torsten ist ein Arsch. Der stört, dieser Fettsack. Ein Nichtsnutz, der gehört ausgetreten. (...) Sagt mein Vater auch immer, wenn ich nichts leiste. Du taugst nichts. Dich zerstört die Geschichte. (...) Mein Leben war Schlägerei vom Alten. Wenn's ihm nicht passte, hat er geschlagen, auch meine Mutter, und wir haben pariert. (...) Spiel mir das Lied vom Tod haben wir nicht gesehen, diesen Film haben wir nicht gesehen, aber es war doch eine geile Idee. (...) Als mein Vater davon hörte, hat er gesagt: ‚Ich mach dich fertig', aber dann hat er dem Anwalt gesagt: ‚Pauk ihn raus.' (...) Mein Alter ist ein Arsch".
  • Mike gilt als Mitläufer. Seine schulischen Leistungen sind befriedigend. Ansonsten fällt er nicht besonders auf. Im Interview erklärt er u.a.: "Ich bewundere Peter. Der ließ die Sau raus. Das durfte ich nie. Ich musste immer brav sein. Nicht mal 'ne Pistole hab' ich gehabt. Ich war nicht mehr ganz bei mir, als ich das machte. (...) Das war wie im Kintopp. Wie neulich im Kino dieser Film "Die Brücke", wo die so sterben müssen und sich wehren. Ich hab' da 'n Hass gekriegt im Kino und auf alles im Film. Und so war's auch bei Torsten, der da lag, irgendwie dachte ich, ich bin im Film. Alles hat sich gedreht. Und Torsten war irgendwie mein Feind".
  • Jan hätte man das, so sein Lehrer, "nicht zugetraut". Er erscheint ruhig, ausgeglichen und angepasst. Über den Anschlag auf Torsten gibt er unter anderem zu Protokoll: "Plötzlich bin ich zu mir gekommen. Das ist kein Krimi, hab' ich gedacht. Das ist ja wirklich. Ja und da bin ich zum Hausmeister. Spiel uns das Lied vom Tod ist ein Western, hab' ich schon was von gehört, aber noch nie gesehen. War ja auch nur 'ne gute Idee. Mehr nicht".

Nimmt man diese Äußerungen, die hier nur sehr knapp und auf Kernaussagen reduziert wiedergegeben werden können, ohne dass darüber hinaus weitere psychosoziale und familiäre Rahmenbedingungen der drei Jugendlichen angesprochen werden, so kommen drei andere Theorien ins Blickfeld, die schon eher geeignet sind, Einflüsse medial inszenierter Gewalt zu beschreiben und zu erklären: die Erregungsthese und das Modell des sozialen Lernens (Lerntheorie). Die Erregungsthese geht von gefühlsmäßigen Einflüssen medialer Produkte aus. Sie konstatiert emphatische Beziehungen zwischen Angebot und Rezipient. Solche Empathie kann sich darin äußern, dass der Zuschauer die Gefühle des Filmprotagonisten mitvollzieht, sich in die Filmdramaturgien einfühlt und hineinversetzt. Empathische Beziehungen werden umso intensiver erlebt, je näher sich das im Medienprodukt vorgestellte Milieu an den aktuellen wie biographisch geprägten Erfahrungen des Rezipienten orientiert, je mehr der Film für den Zuschauer nicht ein "So könnte es sein", sondern ein "So ist es" darstellt.

Mediale Dramaturgien - darauf haben Forschungen abgehoben - werden vom Rezipienten auf der Basis persönlicher Erfahrungen angeeignet und gedeutet, das heißt für Untersuchungen zur Erregungsthese ist es unabdingbar, jene Voraussetzungen zu untersuchen, die ein Rezipient mit in die medienbezogenen Handlungen einbringt. Bezogen auf Peter und Mike bedeutet das: Beide haben beispielsweise höchst unterschiedliche Gewalterfahrungen in der Ursprungsfamilie kennen gelernt. Peter hat nicht gelernt, seine aggressiven Persönlichkeitsanteile gekonnt auszuleben. Gleichzeitig wurde ihm vorgelebt, dass Aggressionen zur Durchsetzung eigener Interessen sehr wohl zu verwenden sind. Mike stellt demgegenüber einen "aggressiven Dampfkessel" dar. Auch er hat Schläge am eigenen Leib gespürt, durfte selbst aber nicht auffällig reagieren. So staute sich über Jahre hinweg eine "unheimliche Wut" an, die sich im Gewaltakt zerstörerisch entlud. Mikes Filmlieblinge sind Rambotypen, die auf sich allein gestellt sind, und die mit zerstörerischen Aktivitäten reagieren, wenn ihr persönlicher Narzissmus angetastet wird.

Nimmt man die Voraussetzungen der Erregungsthese ernst, dann verbietet es sich, leichtfertig von "der" Gewalt oder "dem" Horror in Medien zu sprechen. Auffällig ist vielmehr, dass es je spezifische Bedeutungszuweisungen von Jugendlichen an je spezifische Medienhelden gibt. Solche Medien symbolisieren und verkörpern das aktuelle Thema des Jugendlichen, sie geben seiner inneren Realität eine äußere Form.

Die Lerntheorie ist keine Zauberformel, die simple Ursache-Wirkung-Relationen nur etwas differenzierter erklärt. Sie stellt keine positiven Bezüge zwischen dem Konsum medial inszenierter Gewalt und zerstörerischen Handlungen beim Rezipienten her und liefert deshalb auch keine Rechtfertigung für jugendschützerische Maßnahmen oder für Erklärungen von Rechtsanwälten, die in ihren Plädoyers immer häufiger diese Theorie heranziehen, um jugendliche Straftäter als medienverführte Sünder hinzustellen. Die Lerntheorie - wie sie Bandura entwickelt hat - unterscheidet zwischen dem Erwerb und der Ausführung eines bestimmten Verhaltens. Deshalb verbietet es die Lerntheorie, von medialen Inhalten auf deren kausale Wirkung zu schließen. Ob beispielsweise das Verhalten eines Filmprotagonisten - und hier liegt eine Entsprechung zur Suggestions- und Erregungsthese - als aggressiv und subjektiv bedeutsam eingeschätzt wird, hängt vom Alter, dem Geschlecht, den biographischen Prägungen, den aktuellen Erfahrungen oder dem verinnerlichten Normen- und Wertesystem ab. Für das Erlernen zerstörerischer Aggressionen, so die Lerntheorie, sind u.a. entscheidend:

  • die familiären Sozialisationsbedingungen,
  • die spezifischen Gewalterfahrungen in der Familie oder
  • die Möglichkeiten zur Kultivierung von Aggression.

Lerntheoretiker haben nachdrücklich darauf verwiesen, dass zerstörerische Handlungen einer "vorausschauenden Kontrolle" unterworfen seien. Solche Kontrollen können die Furcht vor Bestrafung, die Angst vor Vergeltung, ein verinnerlichtes Wertesystem oder Schuldgefühle sein. Allerdings ist auch ein Abbau von Hemmschwellen möglich.

Die Lerntheorie zeigt vier Bedingungszusammenhänge auf, die eine Erklärung für die Gewalttaten von Peter, Mike und Jan anbieten. Ein Abbau von Hemmungen kann dann möglich sein,

  • wenn zerstörerisches Verhalten belohnt wird bzw. zerstörerische Aggression zum Handlungsinventar gehört;
  • wenn vor der Beobachtung des angebotenen Modells (also: vor der Rezeption medial inszenierter Gewalt) ein Jugendlicher in seinen destruktiven Persönlichkeitsanteilen Bekräftigung und Verstärkung erfahren hat; dies ist umso wahrscheinlicher, je mehr persönliche Vorbilder entsprechende Handlungsmuster an den Tag legen;
  • wenn mögliche Schuldgefühle durch Rationalisierung verhindert werden; so behindert bzw. reduziert eine Dehumanisierung des Opfers die persönliche Verantwortung;
  • wenn Jugendliche keine realen Möglichkeiten haben, existentielle soziale Ängste abzubauen. Verunsicherte Jugendliche fliehen in die Welt der Medien, um sich durch die Aneignung aggressiver Inhalt zu stabilisieren. Solch selbstverordnete Eigentherapie bindet Jugendliche aber nur noch stärker an mediale Gewaltszenarien.

6. Vom Recht der Kinder auf böse Phantasien

Malte, knappe 6 Jahre, ist allein im Haus. Seine Eltern besuchen eine abendliche Diskussionsveranstaltung. Sie hatten ihrem Sohn untersagt, nach 19.00 Uhr fernzusehen. Malte freute sich insgeheim auf die Abwesenheit seiner Eltern, weil am Abend ein - wie er sagte - "Kriegsfilm" kam. Er hatte das einer Programmzeitschrift entnommen. Fasziniert betrachtete er dort ein Foto mit zerstörten Panzern und Flugzeugen. Seinen Eltern hatte er vorsorglich nichts gesagt, denn "die hätten das nie erlaubt. Ich darf ja nicht mal 'ne Pistole haben." "Ich bemühe mich, ihn so gewaltfrei, so ohne Aggression zu erziehen", erzählte mir Maltes Mutter, Frau Baltus, später einmal, "keine Waffen, gar nichts, wenn er sich was besorgt, nehme ich ihm das sofort weg. Das gibt zwar Krach, aber besser jetzt Krach als später die Folgen". Herr Baltus zog "da lange Zeit mit, aber ich überleg mir jetzt, ob das wirklich so ganz richtig ist". Bedenken waren ihm gekommen, als er seinen Sohn mit einem Freund beim Wildwestspiel sah. Beide hatten sich aus Legosteinen Pistolen samt Granaten gebaut. Als der Vater in das Spiel mit den Worten platzte: "Sag mal, ihr schießt doch nicht etwa", erwiderte Malte ganz ruhig: "Quatsch, siehst du doch. Das sind doch Sprechfunkgeräte." "Ich denke, ihr spielt Western". Malte: "Das ist ein ganz moderner Cowboy. Der schießt nicht. Der hat Walkie-Talkies." Der Vater sah die Gefahr, dass die starre Haltung seinen Sohn dazu bringen könnte, nicht mehr offen zu sein. "Was nützt es mir, wenn er keine Waffen anfasst, aber dafür was unterdrückt oder lügen muss. Aber ehrlich gesagt, ich weiß nicht, was richtig ist." Frau Baltus, eine Grundschullehrerin, war damit nicht einverstanden, weil "ich doch jeden Tag die Auswirkungen solcher Gewalt auf dem Schuldhof sehe".

Doch zurück zu Maltes Fernsehabend. Als die Eltern aus dem Haus waren, setzte er sich vor den Fernsehapparat in Erwartung der Sendung. Er hatte sich bewaffnet: Ein ganzes Arsenal von Holzklötzen, Stöcken und Legos, "alles Pistolen und Handgranaten", lagen um ihn verstreut. "Wenn's zu gefährlich wird, dann hätte ich zurückgeschossen". Der Film begann, es war eine Dokumentation über den Widerstand in Afghanistan. Kurz vor Ende der Sendung wird die Wohnzimmertür aufgerissen. Frau Baltus stürzt hinein, sieht ihren Sohn aufrecht auf dem Sofa sitzen, in der rechten Hand seine "Stock"-Pistole, in der linken eine "Lego"-Granate: "Malte! Ich glaub' ich spinne!" Sie rennt zum Fernseher, drückt den Ausknopf. Malte: "Ich hasse dich! Ich hasse dich!" Frau Baltus geht auf Malte zu, will ihn packen: "Fass mich nicht an, sonst werf ich die Handgranate!" Malte springt auf, an der Mutter vorbei, rennt in sein Zimmer. Er schließt sich ein. Die Eltern fangen an zu streiten: Er macht ihr Vorhaltungen, zu scharf eingegriffen zu haben; sie wirft ihm vor, das alles sei Folge seiner laschen Haltung. "Der weiß nicht mehr, woran er ist, ist doch klar. Dann macht er das, weil das die einfachste Lösung für ihn ist".

Der Streit nimmt an Lautstärke und Heftigkeit zu, als Malte ins Zimmer zurückkommt, sich vor beiden aufbaut und anmerkt: "Regt euch ab, ich werde doch Soldat!" Dann dreht er sich um, geht aus dem Zimmer. Kurzes Schweigen. Dann Frau Baltus: "Siehst du, die ganze Erziehung ist am Arsch". Sie zürnt mit ihrem Mann, weint, liegt fast die ganze Nacht wach, beruhigt sich allmählich und entschließt sich, am nächsten Tag mit ihrem Sohn zu reden. Nach dem Mittagessen will sie ansetzen. Er, ganz cool: "Du nervst!" Frau Baltus erstarrt. Malte sieht seine Mutter fest an: "Ich werde Soldat. Das wirst du noch sehen". Frau Baltus Mimik ist zur Maske geworden, als Malte noch einen draufsetzt: "Krieg ist geil". "Ich war leer", erinnert sie sich später. "da tat sich ein Loch auf in der Erde und ich bin darin versunken". Malte steht auf, geht zu ihr, sieht sie kurz an, streichelt sie: "Ich hab' dich gern". Kurze Pause. "Aber ich werd' Soldat". Die Situation stellt die Familie auf einem Seminar vor. Gemeinsam mit anderen Eltern versuchen wir eine Deutung. Die Baltus' erfahren Unterstützung, Verständnis. Andere Familien berichten von ähnlichen Diskussionen, von Wegen, die Lösungen mit sich brachten, eine entspanntere Atmosphäre im Miteinander bewirkten. "Aber", so Frau Baltus, immer noch entsetzt, "warum macht Malte das? Er sieht doch, ich gebe mir Mühe... Und dann das!" Sie schüttelt den Kopf. "Genau deshalb", wirft eine Mutter, Lea Fischer, ein. "Bei mir war es auch so, je mehr ich verboten habe, umso schlimmer wurde alles. Es ging zum Schluss nicht nur um Pistolen. Es ging nur noch darum, wer diesen fürchterlichen Machtkampf gewinnt!" Dann erzählt Frau Fischer ausführlich über ihre damalige häusliche Situation, über die Verzweiflung, ihre Ohnmachts- und Versagensgefühle - aber auch über den Weg aus der Krise, "um wieder handlungsfähig zu werden", wie sie formuliert. Viele Gespräche, die ich mit den Eltern über die Aggressionswünsche ihrer Kinder geführt habe, bestätigen die Deutung von Maltes Inszenierung: Er setzt sein Spiel mit Pistolen und Bomben, seine Gewaltphantasien ein, um sich von der Friedfertigkeit, der überlegenen Moral, den Normen und Werten seiner Eltern abzugrenzen. Über seine Wünsche drückt er Eigenständigkeit aus. Während es für Malte um Klärung von Beziehung - "Ich will so sein wie ich bin!" - geht, argumentiert Frau Baltus auf der Sachebene - "Man schießt nicht!" ?, thematisiert gleichzeitig die Mutter-Kind-Beziehung: "Wenn du aggressiv bist, dann bist du schlecht!" Mutter und Sohn reden nicht nur aneinander vorbei, Malte fühlt sich durch die Vorwürfe seiner Mutter missverstanden und abgelehnt. Während Frau Baltus ihren Sohn überzeugen will, wie moralisch verwerflich Waffen sind, mithin die äußere Realität anspricht, sind Maltes Aggressionen Ausdruck seiner inneren Realität, d.h. sie sind Ausdruck entwicklungsbedingter Aggressionen und Gefühle. In Krieg und Soldat-Sein konkretisiert sich sein Aggressionswunsch. Da sich Malte nicht angenommen fühlt, zwingt er seine Mutter in einen Machtkampf: "Ich bin nicht schlecht! Aber wenn du mich schlecht haben willst, bitte schön!" Seine Mutter erkennt den Machtkampf selbst dann nicht, als Malte sie mit seinen imaginären Wünschen - "Ich werd' Soldat!" - hilflos macht. Mit dem Machtspiel drückt er der Mutter-Kind-Beziehung seinen Stempel auf. Und je starrer die Mutter versucht, ihm ihre Sichtweise aufzuzwingen, umso mehr gewinnt Malte Freude an der Konfrontation.

Als Frau Fischer darüber berichtet, sie habe ihrem Sohn zwar keine Pistolen gekauft, aber immerhin durfte er sein "Wildwestspiel" machen, sagte Herr Baltus zu seiner Frau gewandt: "Siehst du! Du mit deinem oberpädagogischen Getue!" Frau Baltus war am Morgen nach Maltes Auftritt in die nahe Bibliothek gegangen, hatte sich dort bei einer befreundeten Bibliothekarin "Kinderbücher über die Grausamkeit des Krieges besorgt". Sie war nach wie vor von der Richtigkeit ihrer Maßnahmen überzeugt. "Ich wollte ihm zeigen, wohin das Schießen und die Waffen führen und was es mit dem Krieg auf sich hat. Mit so etwas spielt man nicht!" Frau Baltus senkt die Augen: Das habe einen "Mordskrach gegeben, als mein Mann diese Bücher in der Wohnung gesehen hat". Ob sie denn verrückt geworden sei, habe er geschrieen: "Jetzt ist Schluss. Ich übernehme die Verantwortung. Du hältst dich da endgültig raus." Ihr Mann sei völlig außer sich gewesen. "Ich war tödlich beleidigt. Ich habe ihn tagelang verflucht." Und leise fügt sie hinzu: "Still und heimlich hab' ich gehofft, er würde scheitern". Herr Baltus ging zu Malte, erklärte ihm: "Ich mag nicht, wenn du schießt". Dann habe er Regeln vereinbart: Schießspiele gäbe es nur im Freien und gemeinsam mit Freunden. "Ich möchte nicht, dass du auf mich zielst. Ich mag das nicht. Verstanden?" Malte habe genickt.

In kürzester Zeit nahm die Faszination der Waffen ab, zumindest "war das Spiel aus unserem Blickfeld verschwunden". Spätestens da sei ihm - so Herr Baltus - klar gewesen, dass sein Sohn die ganze Sache mehr oder minder "bewusst vor seinen Augen inszeniert hatte. Meine Frau war aber noch nicht überzeugt. Und Malte spürte das". Eines Morgens brachte er Pistolen mit an den Frühstückstisch. Legte sie demonstrativ neben die Tasse. "Das war ein Verstoß gegen unsere Absprache". Frau Baltus sagte nichts: "Bloß keinen neuen Krach beginnen. Ich habe nichts gesagt. Aber ich muss wie gebannt auf die Waffen geguckt haben". Maltes Vater schaut seinen Sohn dagegen ganz bestimmt an: "Malte!" Er reagiert nicht. "Malte!" Die Stimme bekommt einen noch festeren Klang. "Ja?" fragt Malte, so als wisse er nicht, worum es geht. "Malte! Gelbe Karte!" Die "Gelbe Karte" war ein Regelverstoß. "Kann ich sie liegen lassen?" will Malte mit einem Blick auf die Pistolen gerichtet wissen. "Nein!" "Nun lass ihn mal", greift die Mutter ein. Herr Baltus sieht seine Frau unmissverständlich an. Sie schweigt. "Malte! Du kennst die Absprache!" Seine Stimme klingt mehr als bestimmt, sie hat aber einen freundlichen Unterton. Malte steht auf, nimmt die Pistole, kommt nach kurzer Zeit wieder. "Hoffentlich geht nicht alles von vorne los!" Frau Baltus ist besorgt. "Ich denke nicht!" Malte setzt sich. "Darf ich meine Pistole mit an den Tisch nehmen?" fragt er. "Nein!" "Warum nicht?" Malte bleibt beharrlich. Herr Baltus überlegt: "Wenn Cowboys ein Lokal betreten, geben sie ihre Waffen an der Garderobe ab!" Ganz sicher war er sich nicht, ob das so war. Malte schaute seinen Vater nachdenklich an, dann nickte er: "Ist o.k., Sheriff!" Das Essen war "waffenfrei":

Verbote - aber auch Ignorieren, wenn es um Provokationen geht - sind Ausdruck von Hilflosigkeit. Hinter der Faszination, die Gewaltszenarien, -bilder und -helden, die Symbole von Gewalt auf Kinder ausüben, steckt neben dem Wunsch nach Abgrenzung der nach Loslösung und Autonomie. Ohne Abgrenzung und Autonomie ist eine eigene Identität, sind Selbstwertgefühl und Selbstvertauen nicht möglich. Kindliche Aggression ist mit innerer und äußerer Bewegung verknüpft, solch dynamische Kraft dient der Ausbildung einer eigenen Identität. Aggression als produktive Kraft will weg vom Erreichten, dient dazu, Unbekanntes bei sich und anderen zu entdecken. Eine kindliche Entwicklung ist ohne eine gekonnte Anwendung von Aggression undenkbar. Schon deshalb kann es in der Erziehung nicht um die Hemmung oder Verleugnung aggressiver Kräfte gehen, sondern darum, sie zu kontrollieren und zu kultivieren. Verdrängung, Verleugnung, Tabuisierung schaffen Aggressionen ebenso wenig aus dem Alltag wie eine pädagogische Aggression, die im Namen der Moral Kinder zu Friedfertigkeit zwingen will.

Die pädagogische Aggression - wie Frau Baltus sie anwendet - verlangt von Kindern die Unterdrückung von nicht gewünschten Gefühlen, sie will den Verzicht auf das generelle Ausleben von Aggressionen. Pädagogische Aggressionen nehmen Kinder in ihren Entwicklungsbesonderheiten meist nicht an, sie übersehen die Gefühle der Kinder im Hier und Jetzt. Statt dessen geht es um die Entwicklung einer angepassten Fassade. Wer seine - noch so gut gemeinten - Ziele, so der Psychoanalytiker Schmidbauer, über die des Kindes stellt, bringt diesen bei, dass Hierarchie und Macht eingesetzt werden dürfen, um seine Ziele durchzudrücken. Sinn des Lebens ist dann nicht das Ausleben innerer Gefühle und Wünsche, die der kindlichen Entwicklung entsprechen, sondern "dieses Innere zu unterdrücken und die Erwartung auf äußere Anerkennung an seine Stelle zu setzen" (Schmidbauer). Doch viele Kinder wehren sich dagegen - Malte zeigt es -, sie fordern in einem Machtkampf eine realitätsgerechte Erziehungsbeziehung ein, eine Beziehung, die Kinder in ihrer Ganzheit annimmt.

7. Man braucht ganz offensichtlich Sündenböcke

Die Diskussionen um das Böse und die Gewalt in den Medien haben die anfangs schon angesprochene Sündenbocktechnik veranschaulicht, eine Technik, die schon im dritten Buch Moses so beschrieben wird: "Und wenn er vollbracht hat das Versöhnen des Heiligtums und der Hüter des Stifts des Altars, so soll der den lebendigen Bock herzubringen. Da soll dann Aaron seine beiden Hände auf sein Haupt legen und bekennen auf ihm alle Missetat der Kinder Israel und alle ihre Übertretungen in allen ihren Sünden, und soll sie dem Bock auf das Haupt legen und ihn durch einen Mann, der bereit ist, in die Wüste laufen lassen, dass also der Bock alle ihre Missetat auf sich in eine Wildnis trage, und er lasse ihn in die Wüste".

Der Sündenbock dient der Entlastung von eigenen Unterlassungen, indem er das Versagen dem Bock auflegt, der nicht nur die Sünden zu tragen hat, sondern auch für alle weiteren Fehlentwicklungen verantwortlich zu machen ist. So kann man komplexe Sachverhalte reduzieren, seine Hände in Unschuld waschen. Oder auf das Thema übertragen: Wenn also die Diskussion über die Gewalt in den Medien die gefühlsmäßigen und psychischen Lebensbedingungen derjenigen ausblendet, die diese Symbole nutzen, dann wird deutlich: Die Auseinandersetzungen haben mehr die Funktion eines Ventils, über das man Entrüstung schnell ablassen kann. Und dies scheint leichter, als jene Lebensbedingungen zu verändern, die zerstörerische Aggression erst aufbauen oder die Bereitschaft, sich auf die Aggressionsphantasien der Heranwachsenden einzulassen, sich damit konstruktiv oder grenzensetzend auseinander zu setzen. Und so wird die Diskussion über die Gewalt in den Medien, über die Gefahr und die Lust am Bösen auch in den nächsten Jahren der kleinste gemeinsame Nenner sein - wie schon vor mehr als 200 Jahren.

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Quelle

Aus: Susanne Bergmann (Hrsg.): Mediale Gewalt - Eine reale Bedrohung für Kinder? Bielefeld, AJZ-Druck &Verlag(GMK), 2000, S. 208 ff. Eingestellt am 28.07.2002