Beratung im öffentlichen Raum. Zwischen sozialer Unterstützung und lebensweltorientierter Beratung

Reinhard Rudeck

Mütterzentren sind Beratungseinrichtungen, die aus der etabliert-professionellen Sicht nicht als solche anerkannt werden. Wie den vielen engagierten Nachbarschafts- und Selbsthilfeinitiativen haftet auch ihnen der Geruch der Unprofessionalität an. Ihr Beratungsverständnis unterscheidet sich in wesentlichen Punkten von den herrschenden Normierungen des professionellen Establishments: Sie beraten auf der Basis von Kompetenzen, die sich nicht durch Ausbildungszertifikate legitimieren. Sie haben keinen Zugang zu den verschiedenen Finanzierungstöpfen institutionalisierter Beratung. Sie stehen für eine andere Art von Qualität und stellen allein schon durch ihre Existenz institutionelle Beratungseinrichtungen konzeptionell in Frage.

Gespräche am Kaffeetisch und darüber hinaus

Wenn man sie fragt, dann sagen sie, "sie kümmern sich" um Menschen, die zu ihnen ins Mütterzentrum kommen. Hinter dieser eher harmlos klingenden Beschreibung verbirgt sich sachkundig betriebene Beratung in einem sehr umfassenden Sinn. Was die Frauen im Mütterzentrum tun, unterscheidet sich von institutionalisierter Beratung, ist in vielem aber durchaus mit ihr vergleichbar. Aus einem Selbsthilfeansatz heraus haben sie differenzierte Formen der Beratung entwickelt und zugleich eine Vielfalt an Beraterinnen mit jeweils unterschiedlichem Kompetenzprofil hervorgebracht. Ihr Angebotsspektrum reicht von Entlastung, Unterstützung und konkreter Hilfe im Alltag über Beratung in Fragen der Kindererziehung und Lebensgestaltung bis hin zur Begleitung und Beratung in individuellen und familiären Krisen; es umfasst Sozial- und Schuldenberatung ebenso wie "Hilfen zur Erziehung" und Unterstützung bei Hilfeplanvereinbarungen, in psychiatrischen oder in geriatrischen Problemlagen.

Im Mütterzentrum Salzgitter1 finden die Besucherinnen und Besucher also ganz unterschiedlich qualifizierte Beraterinnen, seien es die in Gesprächsführung geübten Caféstubefrauen oder die "Praxisexpertinnen" mit ihren speziellen Kenntnissen. Sie alle verfügen über alltagsnahe Erfahrungen zu Lebensführung, Kindererziehung und Partnerschaftsproblemen. Nicht jede einzelne beratende Frau im gleichen Maße, aber alle zusammen erbringen sie ein großes Potential an Wissen und Beratungskompetenz für Krisensituationen - etwa bei Trennung und Scheidung, Suizidgefährdung oder Suchtproblemen.

Auf dieser breiten Basis bieten sie individuelle Möglichkeiten der Persönlichkeitsentwicklung, der Beratung, Unterstützung und Bildung an - für mehr oder weniger stark belastete Menschen, für unkomplizierte und schwer zu integrierende, für Menschen aus unterschiedlichen sozialen Kontexten: die Sozialhilfeempfängerin und die Akademikerin im Erziehungsurlaub, Mütter mit Kindern jeden Alters, Frauen ohne Kinder, Frauen mit geringen oder fehlenden Qualifizierungen, erwerbstätige oder arbeitslose Mütter, Frauen mit psychischen und sozialen Beeinträchtigungen, Frauen in schwierigen Lebensphasen, sozial benachteiligte oder auffällige Jugendliche, Frauen und Männer, die aus der Psychiatrie zu ihnen kommen, alte Menschen gleich welcher Herkunft, Menschen mit erheblichen gesundheitlichen Beeinträchtigungen, Menschen mit Behinderungen, Aussiedlerinnen und Immigrantinnen.

Beratung im Mütterzentrum beginnt oft in der Caféstube. Für manche Besucherinnen haben die Gespräche am Kaffeetisch bereits die Qualität einer Beratung. Sie kommen, um einen Kaffee zu trinken und zu plaudern, und geraten unversehens in ein Gespräch, in dem andere Frauen ihre persönlichen Erfahrungen und ihre Sicht der Dinge einbringen und ihre Problemlösungen zur Verfügung stellen. Sie vergleichen wechselseitig ihre persönliche Situation und ihre Erfahrungen, relativieren und orientieren sich: "So kann man das ja auch sehen", "Das ist also erlaubt!" oder "Das könnte ich doch auch mal ausprobieren". Die Caféstube ist aber auch Anlaufstelle für Menschen, die gezielt hierher kommen, mit einer speziellen Frage oder einem konkreten Anliegen. Hier können sie die Beraterinnen mit ihren unterschiedlichen Kompetenzen kennen lernen und Kontakt zu ihnen aufnehmen.

Andere Frauen nehmen das Gespräch am Kaffeetisch zunächst einmal nicht als Chance für Beratung wahr, da solche Gespräche für sie keine vertraute Ausdrucksmöglichkeit sind. Sie sind es eher gewohnt, durch gemeinsames Handeln Kontakt aufzunehmen und in Beziehung zu treten. Anlass hierfür sind oft die Kinder. Ist beispielsweise eine Frau kurz davor, ihre Kinder zu schlagen, die am Frühstücksbüffet herumzappeln und ihr Stress bereiten, mischt sich eine der Caféstubefrauen ein, kümmert sich um die Kinder und hilft der Mutter, die Situation zu managen.

Solche alltäglichen Situationen greifen die Mütterzentrumsfrauen ebenso auf wie die vielen Hinweise in den Kaffeetischgesprächen, mit welchen Problemen sich eine Frau herumschlägt und welche Schritte sie gehen könnte. Sie nehmen sie zum Anlass, nachzufragen und konkrete Hilfen aufzuzeigen. Sie haken ein, bieten Einzelgespräche am Nachbartisch an, um eine persönliche Fragestellung zu vertiefen, weisen auf Möglichkeiten hin, sich mit einer für dieses oder jenes Problem besonders kompetenten Frau zu besprechen oder eine spezielle Dienstleistung des Mütterzentrums in Anspruch zu nehmen. Ein kurzer Austausch direkt in der Caféstube ist ebenso möglich wie ein längeres Vieraugengespräch in einem geschützten Raum.

Die Beraterinnen im Mütterzentrum haben fundierte soziale Fähigkeiten entwickelt, auf Menschen zuzugehen, sie einzubeziehen, ihnen genau zuzuhören, ihre Verhaltensweisen und Gefühlsäußerungen, ihre verbalen und nonverbalen Signale wahrzunehmen, einzuschätzen und das eigene Handeln darauf zu beziehen. Sie sehen ihre Aufgabe auch darin, fließende Übergänge zwischen ihren verschiedenen Beratungs- und Hilfeangeboten herzustellen. Zwar kann es mitunter sehr lange dauern, bis die Besucherinnen Vertrauen fassen, aber ohne sie zu drängen, behalten die Mütterzentrumsfrauen sie im Blick, bemühen sich um sie und überlegen, welche Angebote sie ihnen zu gegebener Zeit machen könnten.

Unter Beratung verstehen sie im Mütterzentrum mehr, als verständnisvolle Gespräche zu führen oder wohlgemeinte Ratschläge zu geben. Sie bieten auf der Grundlage umfassend reflektierter Praxiserfahrungen alltagsnahe Beratung an. Diese schließt unmittelbare Entlastung und Unterstützung ebenso ein wie das Gespräch nach einer gemeinsam bewältigten Situation oder die Möglichkeit, die gewonnenen Erkenntnisse bei nächster Gelegenheit umzusetzen.

Auch in außergewöhnlichen Situationen sind die Frauen des Mütterzentrums in der Lage, kompetent zu reagieren und Soforthilfe zu leisten. Sie bewältigen Kriseninterventionen, wenn andere Institutionen geschlossen haben. So konnten sie es am Wochenende bewerkstelligen, Kinder, die in Sicherungsverwahrung genommen werden mussten, kurzfristig unterzubringen. Beratung im Mütterzentrum verfügt durch das komplexe Setting über ein großes Spektrum an internen Zugangs- und Unterstützungsmöglichkeiten, ist aber darüber hinaus durch die Möglichkeit der Vermittlung auch an das Versorgungsspektrum externer Dienste angeschlossen. Sollten in ihrem System Kompetenzen fehlen, so sorgen sie dafür, sich entsprechendes Fachwissen entweder selbst zu erwerben oder kundige Experten hinzuzuziehen.

Wie in der Wohnküche einer Großfamilie finden auch hier Gespräche unterschiedlicher Intensität in aller Öffentlichkeit statt. Weil sich Beratung häufig im öffentlichen Raum abspielt, kann sie von allen wahrgenommen, eingeschätzt und bewertet werden. Die Frauen tauschen sich aus über das, was sie hier sehen oder erzählt bekommen. Jede weiß: "Hier sind noch viele andere, die auch ihre Sorgen und Unzulänglichkeiten haben, deswegen können ruhig alle von meinen Problemen wissen". Hinzu kommt ein kollektives Wissen darüber, dass die Verantwortlichen Tratsch entgegentreten und mit persönlichen Informationen sehr sorgsam umgehen. So entsteht eine Atmosphäre von Vertrauen, in der die Veröffentlichung persönlicher Schwierigkeiten nicht als Versagen oder Verrat empfunden wird, ihre überhöhte Bedeutung verliert und als etwas ganz Alltägliches erfahren werden kann.

Auch die Beraterinnen können hier erlebt und beobachtet werden, nicht nur in ihrer Rolle, sondern auch ganz persönlich - wie sie arbeiten und wie sie sich im Kontakt mit den Menschen geben. Sie legen daher sehr großen Wert darauf, sich oft in der Caféstube aufzuhalten und dort ansprechbar zu sein. Ihre Geschichte ist im Hause bekannt mitsamt den Situationen, in denen sie selber Unterstützung benötigten und erhalten haben. All dies trägt dazu bei, das potentielle Hierarchiegefälle zwischen ratsuchenden und beratenden Frauen zu nivellieren und Zugangsbarrieren zu senken.

Handeln im System und mit den Möglichkeiten desselben erfordert kontinuierliche Reflexion und ein Informations- und Wissensmanagement, welches dafür sorgt, dass das Wissen unterschiedlicher Personen und Arbeitsbereiche zusammenfließt und dem System erhalten bleibt. In einem fein aufeinander abgestimmten Netz von internen Besprechungen und turnusmäßig stattfindenden Fortbildungsseminaren qualifizieren sich die Mütterzentrumsfrauen für ihre Beratungs- und Unterstützungsaufgaben. Ebenso wichtig sind ihnen die vielen informellen Zwischendurchgespräche: Immer wieder stehen die Mütterzentrumsfrauen zusammen, überdenken die Rollen, die sie innehaben, und überlegen, wer welchen Part übernimmt.

Was sich in der institutionellen Beratung durch die Fokussierung auf Defizite und den Grundkontrakt zur Veränderung als "institutionelles Machtgefälle" (Hundsalz 1995, S. 18) zwischen Beratern und Beratenen abbildet, wird in der Wertekultur des Mütterzentrums aufgehoben. Die Menschen können hier sein, wie sie sind, mit allen ihren Schwächen und Stärken. Die Person als Ganzes und nicht die durch den institutionellen Beratungsauftrag vorgegebene Problemsicht ist hier der Ausgangspunkt für Beratung. Im Gegensatz zur Grundausrichtung institutioneller Beratung, die auf Distanz und Abschirmung ausgelegt ist und der Ergänzung durch informelle soziale Unterstützung natürlicher Netzwerke bedarf, bieten die Optionen des Mütterzentrums beides gleichermaßen und gewährleisten damit einen nahtlosen Übergang zwischen verschiedenen sozialen Räumen.

Beratung im Mütterzentrum knüpft an konzeptionellen Linien an, die Thiersch (1991) als wesentliche Grundlagen Sozialer Beratung beschrieben hat: "Als Konzept zielt sie auf Hilfe zur Selbsthilfe im Lebensfeld. In ihrer methodischen Struktur zielt sie auf den prozeßhaften Zusammenhang der Erkenntnis (Wahrnehmung/ Diagnose) der Schwierigkeiten, der Klärung und dem Entwurf der Hilfsmöglichkeiten und der Unterstützung und Hilfe in der Erschließung der Ressourcen" (S. 24). Gegenüber "spezielleren, eingegrenzteren und überschaubareren Beratungsformen" legt sie ein "offenes Arbeitskonzept" vor (Thiersch a.a.O.).

Mit ihrem konsequenten Bezug auf den Alltag und die Lebenswelt der Menschen und mit ihrer strikten Fähigkeitenorientierung geht Beratung im Mütterzentrum einen eigenen Weg zwischen Sozialer Beratung und Selbsthilfe. Eingebettet in die Kultur des Mütterzentrums mit seiner Philosophie der Selbstverantwortung, der Betonung der individuellen Fähigkeiten und Stärken, der kleinen Schritte und des Zusammenwirkens unterschiedlicher Kompetenzen, verschränken sich hier in vielen Alltagssituationen Beratung und soziale Unterstützung. Beratung im Mütterzentrum Salzgitter ist Beratung im System und durch das System. Und mit der ihnen eigenen Nachhaltigkeit erfolgt Beratung bei ihnen auch ausgesprochen systematisch.

Was heißt schon "Beratung"?

"Beratung" ist ein offener Begriff. Es gibt so viele Definitionen wie Autoren, die das Thema behandeln, und es gibt bis heute keine eigenständige "integrierende Beratungstheorie, die einen theoretischen Rahmen vorlegt oder handlungsleitend für die Praxis ist" (Sickendiek u.a. 1999, S. 54). Trotz langer Praxistraditionen in unterschiedlichen Feldern, wie Eheberatung, Erziehungsberatung, Sexualberatung oder Schulberatung, hat Beratung in Deutschland bislang keine "eigenständige konzeptionelle Identität entwickelt" (Nestmann 1997, S. 7). Die mittlerweile sehr ausdifferenzierten Anwendungsgebiete von Beratung setzen alle bei einem Allgemeinverständnis von Beratung an, wie es auch in den gängigen Konversationslexika nachzulesen ist. Und viele Versuche, Beratung zu definieren, greifen vornehmlich auf Strukturkriterien zurück, weniger auf eine theoretische Explikation. Die Funktion von Beratung wird hier eher aus äußeren Bestimmungsgrößen, wie Zielgruppe, Anwendungsfeld, Formalqualifikation oder Finanzierungspraxis, abgeleitet.

Entgegen ihrer wachsenden gesellschaftlichen Bedeutung blieb Beratung bisher ein "unterentwickelter konzeptioneller Diskussions-, Entwicklungs- und auch Forschungsbereich" (Nestmann 1997, S. 8). "Im dunkeln bleibt" gemeinhin, "was Beratung (...) feldspezifisch und vor allem feldübergreifend ausmacht" (Nestmann a.a.O.). Soll Beratung nun lebensfeldorientiert auf die Bedürfnisse der Menschen reagieren, alltagsnahe Unterstützung anbieten, notwendige Informationen vermitteln und Kompetenzen zur Bewältigung des Alltags unterstützen, oder soll sie sich als eine Spielart der Psychotherapie verstehen? Bislang jedenfalls plagt sich Beratung, ganz gleich welcher Schattierung, immer noch mit der Frage, ob sie nun eine reduzierte Version der hohen Schule der Therapie sei, oder ob sie sich als eigenständiger Ansatz zu verstehen habe. Heute arbeitet letztlich "jede Form psychosozialer Beratung mit dem kommunikativen Repertoire, das in den verschiedenen psychotherapeutischen Schulen entwickelt worden ist" (Großmaß 1997, S. 122). Und wer sich nach oben orientiert, hat oft keinen Blick für die Seite. So fällt bei näherem Hinsehen auch sehr schnell auf, dass keine der professionalisierten Beratungsdisziplinen in ihrem Ansatz die Anschlusstangenten an die Beratungs- und Unterstützungsbereiche der Selbsthilfegruppen, der Laieninitiativen und der Paraprofessionellen vorsieht.

Die professionelle Sicht schließt die Kategorie "Alltagsberatung" also nicht mit ein, obwohl die Geschichte der Beratung hier ihren Anfang genommen hat. Ausgehend vom ehrenamtlichen Engagement Ende des neunzehnten und Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts und von den zumeist politisch motivierten Selbsthilfeinitiativen der sechziger Jahre, hat sich über zwei Professionalisierungswellen das breite Feld der institutionalisierten Beratung entwickelt (Großmaß 1997, S. 119ff; Zygowski 1987, 1989). Aus der alltagsnahen und lebensweltorientierten Beratung der Anfangszeiten wurde eine "psychologisch-psychotherapeutisch geschulte Kommunikation" mit "eigenständigen und artifiziellen Kommunikationsformen" (Großmaß 1997, S. 124). Diese Entwicklung führte sowohl zu sprachlichen Verständigungsschwierigkeiten zwischen den Professionellen und den Beratenen als auch - durch den Aufbau einer "geheimen Moral" (Thiersch 1989, 1990) mit eigenen Werthaltungen - zu einander widersprechenden Deutungsmustern erlebter und erzählter Wirklichkeit. Differenzen dieser Art lassen sich im Herrschaftsdiskurs der Professionen auch heute noch in verschleierter Form erkennen. Zugleich verschob sich der Fokus von Beratung immer mehr auf die psychologische Ebene; die sozialen und gesellschaftspolitischen Anliegen traten hinter psychologische Begründungsmuster zurück und überließen ihnen zuweilen ganz das Feld.

Im Verlaufe der Professionalisierung von Beratung und ihrer zunehmenden Spezialisierung sind Einrichtungen entstanden, die sich mit ihrer spezifischen Institutionskultur und ihren Spielregeln von den Bedürfnissen der Menschen immer mehr entfernt haben. Statt Beratung zu erhalten, die an der Sprache, der Beurteilung und der Problemsicht der Ratsuchenden anknüpft, müssen diese in die Rolle eines "homo consultabilis" (Thiersch 1989, S. 189) schlüpfen und mit den elaborierten Sprachcodes und den Zuschreibungen der Experten zurechtkommen, Stigmatisierung in Kauf nehmen und Zugangsschwellen überwinden. Um diese Art institutioneller Beratung in Anspruch nehmen und nutzen zu können, sind ausgeprägte soziale Fertigkeiten erforderlich, die vielen der heute gerne als souveräne Kunden von Beratung bezeichneten Menschen nicht oder nur in geringem Maße zur Verfügung stehen.

Mit dem Ziel, solchen Effekten der Professionalisierung entgegenzuwirken und die wachsenden Barrieren einer sich manifestierenden Institutionenkultur zu senken, hatten etwa Mitte der siebziger Jahre einzelne Beratungsstellen damit begonnen, unter der Perspektive der Lebensweltorientierung neue Formen von Beratung zu entwickeln (vergleiche Arbeitsgruppe "Familienzentrum Neuperlach" 1980). Alternativ zu einseitigen Anforderungs- und "Komm"-Strukturen setzten sie auf zugehende Beratungsformen und Settings, die sich auf Schwierigkeiten, aber auch auf die Möglichkeiten der Menschen bei der Organisation ihres Alltags einstellten. Sie boten Beratung außerhalb ihrer Institution im Alltagskontext der Menschen an und verschränkten persönlichkeitsorientierte Beratung mit alltagsbezogenen Beratungs- und Unterstützungsformen. Auf der Versorgungsebene bauten sie Kooperationen zu anderen, traditionellerweise separiert arbeitenden Versorgungssystemen auf und vernetzten sich mit Schulen, Ärzten, Kindergärten, Kinderhorten oder heilpädagogischen Tagesstätten. Auf Stadtteilebene engagierten sie sich in gemeinwesenorientierten institutionen- und initiativenübergreifenden Projekten und politischen Gremien.

Je sichtbarer, erlebbarer und überprüfbarer sie im Verlauf der Jahre in der Stadtteilöffentlichkeit wurden, je mehr sie ihre Angebote in das vielfältige Geflecht von Unterstützung in natürlichen sozialen Bezügen und Netzwerken einbetten konnten, desto mehr erleichterten sie es den Menschen, auf ihre Institutionen zuzugehen und Beratung in Anspruch zu nehmen. Damit verbunden war eine konzeptionelle Neuorientierung, die an den Fähigkeiten und Ressourcen der Menschen anknüpfte und Empowerment- und Social-Support-Strategien in professionelles Handeln einbezog. So richtig diese Ansätze aus Sicht einer umfassenden psychosozialen Versorgungsstrategie sein mögen, die fachspezifischen Entwicklungen lassen jedoch erhebliche Zweifel zu, ob Beratungsinstitutionen letztendlich willens sind, ihre durchaus legitimen Qualifizierungsbestrebungen konzeptionell in einen sozialökologischen Grundansatz einzubinden und ihr professionelles Selbstverständnis konsequent darauf auszurichten.

Nach Sickendiek, Engel und Nestmann (1999, S. 15 ff.) lassen sich die breitgefächerten Beratungsdisziplinen vier Segmenten zuordnen: psychologischer, pädagogischer, psychosozialer und sozialer Beratung. Dem Alltag und den Lebensverhältnissen von Menschen am nächsten kommt Beratung, die sich als "Hilfe zur Selbsthilfe in Lebensschwierigkeiten" (Thiersch 1991, S. 28) versteht und als Versuch, "die Normalität des Lebens und seiner Bewältigungsmuster im Alltag zu unterstützen" (Thiersch 1992, S. 141) - mit dem Ziel, einen "gelingenderen Alltag" (Thiersch 1986, S. 36) zu ermöglichen. Bereits 1976 formulieren Frommann u.a. auf der Basis einer alltagstheoretischen und therapiekritischen Perspektive als Leitgedanken für Beratungshandeln "erstens Akzeptanz der Ratsuchenden und ihrer alltagsweltlichen Bezüge, zweitens die Sachorientierung als Vermeidung der Umdefinition von Lebenslagenproblemen in Personen- oder Beziehungsprobleme, und drittens Partizipation als eine Form solidarischen Handelns" (1976, zit. nach Sickendiek u.a. 1999, S. 42). Eine solche Programmatik liegt quer zu den verschiedenen Ausprägungen von Beratung und erfordert nahtlose Übergänge zwischen ihnen, egal ob es sich um Beratung in Erziehungsfragen handelt, um Soziale Beratung oder um Alltagsberatung. Sie macht zugleich deutlich, dass die Hierarchie und die Grenzen zwischen den Beratungsdisziplinen in erster Linie durch die Gesetze ihrer jeweiligen Professionalisierung bestimmt werden.

Beratungshandeln setzt individuelle Spezifik mit verdichtetem Wissen in Beziehung. Aus dieser Beziehung erwachsen Verstehen, Entlastung, Deutung und Orientierung. Professionelle Beratungsrichtungen greifen hierbei vornehmlich auf Theorien und Wissensbestände zurück, die auf der Basis einer positivistischen Wissenschaftssicht als legitimiertes Wissen gelten. Dieses Wissen wird in den Beratungsalltag übersetzt und auf diesen angewendet. Der institutionelle Status der Beraterinnen und Berater macht dieses Wissen zu einem Expertenwissen mit exklusivem Zugriff. Aus Wissen und Status leitet professionelle Beratung eine "institutionalisierte Kompetenz zur Konstruktion von Wirklichkeit" (Hitzler u.a. 1994) für sich ab.

Theoriebildung und Wissenserwerb bilden auch in alternativen Beratungseinrichtungen wie dem Mütterzentrum Salzgitter die Basis für Beratungshandeln, erfolgen aber auf anderem Wege als dem eben sehr pointiert skizzierten. In der Tradition hermeneutisch-phänomenologischer Wissenschaftssicht entsteht Wissen hier vielmehr durch Reflexion, Auswertung und Verdichtung "empathischer Geschichten", in denen sich eine Fülle von Praxiserfahrungen widerspiegelt. Von außen betrachtet lassen sich viele der hierbei gewonnenen Erkenntnisse unmittelbar verknüpfen mit Entwicklungslinien aus anderen Kontexten, zum Beispiel mit dem Leadership-Support-Ansatz, dem Empowermentkonzept, dem Ressourcen- und Netzwerkansatz, dem Bewusstsein über politische Verkehrsformen oder mit sozialökologischem Denken. Obgleich nicht explizit benannt, verweben sich Leitideen aus diesen Ansätzen in den Praxisreflexionen der Mütterzentrumsfrauen zu einer theoretischen Folie, aus der sie handlungsleitende Orientierung beziehen. Die systematische Anwendung und Überprüfung von Praxiswissen und den daraus destillierten Handlungsmaximen für ihre Praxis macht sie zu Expertinnen in eigener Sache.

Ebenso wenig wie sich die Grundkategorien des Beratungshandelns bislang aus einer übergreifenden Theorie herleiten lassen, sondern ihren Ausgang letztlich vom Allgemeinverständnis nehmen, ebenso rar ist es um entsprechende Ausbildungscurricula an Fachhochschulen oder Universitäten bestellt. Beratungskompetenz kann vielfach erst im Anschluss an den gefürchteten Praxisschock im Beratungsalltag erworben werden. So schließt Beratungshandeln auch hier zunächst an Formen der Alltagskommunikation an: "Zuhören, persönliche Anteilnahme, Ausdrücken von Verständnis, Hinweise auf Lösungsmöglichkeiten, Entlasten von Schuldgefühlen" (Großmaß 1997, S. 125). In professionell betriebener Beratung und in den Beratungsgesprächen der Selbsthilfeinitiativen finden sich viele ähnliche Elemente und Handlungsroutinen. Insofern kann das Fazit aus einer Betrachtung unterschiedlicher Beratungskontexte nicht verwundern: "Professionelle Beratung ist einer funktionierenden Alltagskommunikation (...) nicht unbedingt überlegen" (Großmaß 1997, S. 126). Einer genaueren Analyse dieser These steht leider entgegen, dass "im Vergleich zur differenzierten Struktur von Beratungseinrichtungen (...) das gegenwärtige Wissen über die Akzeptanz und die Wirkungen von Beratung noch immer recht gering" ist (Sickendiek u.a. 1999, S. 53).

Der Profi-Laien-Konflikt - Manifestation oder Emanzipation von Machtverhältnissen?

Im Kontakt zwischen interessierten Fachkräften und Frauen des Mütterzentrums kann es unversehens zu unerwarteten Kippeffekten kommen: Eben noch sehr selbstbewusst und kompetent wirkend, sprechen die Frauen, während sie über ein neues anspruchsvolles Projekt berichten, im selben Atemzug von ihren Gefühlen der Inkompetenz und Wertlosigkeit. Ist das Koketterie gegenüber einem Vertreter des Profitums oder tiefsitzender Zweifel an sich selbst?

Mütterzentren sind Beratungseinrichtungen in der Hand von Laienfrauen. Als alternative Einrichtung blicken sie auf eine lange Geschichte der Ablehnung, Geringschätzung und Entwertung durch die arrivierten Vertreter der Beratungsszene zurück. Als Frauen, die freiwillig und unentgeltlich kompetente Reproduktionsarbeit im privaten wie im öffentlichen Raum leisten, fühlen sie sich mit Recht mehrfach diskriminiert: Ihre Leistungen werden hier wie dort gerne in Anspruch genommen, mitnichten jedoch entsprechend gewürdigt - weder was die persönliche, die gesellschaftliche, die fachliche und erst recht nicht, was die finanzielle Anerkennung anbelangt.

Die Stellung der Mütterzentrumsfrauen im Geflecht psychosozialer Versorgung hat viel mit ihrem Laientum und mit ihrem Frausein zu tun. Es sind Frauen, die in einem von Männern dominierten Feld immer wieder Neuland betreten haben, dabei obendrein äußerst erfolgreich waren und entgegen den Spielregeln des professionellen Establishments Erstaunliches zu Wege gebracht haben. Über einen Zeitraum von zwanzig Jahren hinweg haben sie ein soziales Gefüge mit einer spezifischen Kultur aufgebaut, das nicht nach der herrschenden Institutionenlogik strukturiert ist und in dem das verwirklicht wird, wovon viele andere nur reden. Dies konnten sie nur durch ihre Willenskraft und ihre Unbeirrbarkeit erreichen, durch ihren Eigensinn und ihren Widerstand, mit dem sie viele Hürden überwunden haben.

Mit ihren Verflechtungen im Dominanzverhältnis zwischen Profis und Laien machen die Mütterzentrumsfrauen ausgesprochen prototypische Erfahrungen: Sind sie nun Teil der psychosozialen Versorgung oder nicht? Werden sie als Partnerinnen ernst genommen oder gerade eben noch akzeptiert? Gemeinhin werden Selbsthilfeinitiativen, Laiengruppen oder Paraprofessionelle als Brückeninstanzen gesehen, die im Vorfeld der Betreuung in den Institutionen wirken und anschließend an sie Übergänge zur Alltagswelt schaffen. Sie sollen also die nicht finanzierten Lücken in der psychosozialen Versorgung füllen. Da die Finanzierung von Leistungen an Strukturkategorien, wie Formalqualifikation oder die Forderung nach einem interdisziplinären Team, gebunden ist, werden ihnen viele ihrer Leistungen nicht bezahlt. Damit wird für sie der Aspekt der Finanzierung zum Prüfstein und zum Synonym für die Wertigkeit ihrer Arbeit. Zugespitzt drückt sich das so aus: Die Geldmittel fließen an eine Tagesklinik, zur kostenlosen Nachbetreuung und Stabilisierung aber werden die Patientinnen und Patienten in das Mütterzentrum vermittelt. Oder eine psychiatrische Klinik lässt sich in das Know-how der Mütterzentrumsfrauen einführen, gründet mit diesem Wissen eine Teestube und bekommt die Maßnahme selbstverständlich finanziert. Das Mütterzentrum selbst jedoch hat keinen Zugang zur Refinanzierung entsprechender Leistungen.

Die Erfahrungen der Mütterzentrumsfrauen mit den objektiv gegebenen Machtverhältnissen bringt ein weiteres Beispiel deutlich zum Ausdruck: Obwohl sie als Einrichtung gut mit dem Jugendamt, dem Sozialamt, mit Ärzten und anderen Vertretern verschiedener Institutionen zusammenarbeiten, haben diese es erkennbar lieber mit der Sozialpädagogin des Mütterzentrums zu tun als mit einer der sogenannten Laienfrauen, selbst wenn diese die Kontakte mit den sozialen Diensten konstant wahrnehmen und dort gut bekannt sind. Ohne Diplom und Zertifikat gelten ihre langjährigen Erfahrungen und ihr Know-how eben doch nicht so viel, dass man sie als gleichberechtigte Ansprechpartnerinnen akzeptierte.

Das allgemeine Misstrauen der Mütterzentrumsfrauen gegenüber der Profiwelt und ihre Abwehr gegenüber der institutionalisierten Beratungskultur lassen sich unter den geschilderten Umständen gut nachvollziehen, auch wenn sie zuweilen in ihrer pauschalen Abwehr kräftig über das Ziel hinausschießen. Aus berechtigter Kritik an herkömmlichen konzeptionellen Beratungsansätzen wehren sich die Mütterzentrumsfrauen gegen das Hierarchiedenken der Profis, um sich so den Raum freizukämpfen für den Aufbau einer Gegenwelt nach eigenen Vorstellungen und Idealen. Die emotionale Kraft dieser Abwehr speist sich aus einer Quelle, die auf eine lange Geschichte erfahrener Abwertungen und Verletzungen zurückgeht, sie ist gründlich internalisiert und in eine tiefsitzende Entwertungshaltung übergegangen: "Ich bin in einem Seminar gewesen, und als ich bei der Vorstellungsrunde an der Reihe war, habe ich gesagt: 'Ich bin nichts'. Da haben sie mich angeguckt: 'Wie - du bist doch hochprofessionell!' Und ich habe erwidert: 'Ich bin nichts. Ich habe nicht studiert, ich habe nichts vorzuweisen'". Indem sie die professionellen Kategorien ablehnen, reagieren sie aber nicht nur auf der Ebene ihrer Empfindungen oder von ihrem konzeptionellen Ansatz her. Sie wehren sich zugleich gegen die Dominanz der Experten und gegen die Entmündigung durch diejenigen, die mittels ihrer Definitionsmacht die Maßstäbe setzen - und damit die Laienfrauen und den Wert ihrer Arbeit herabsetzen und als nachrangig einstufen.

Mit ihrer konsequenten Weigerung, ihre Tätigkeit in der Sprache der Professionellen zu beschreiben, sorgen die Mütterzentrumsfrauen dafür, dass sich die Qualität dessen, was sie tun, aus sich selbst heraus und direkt erschließt, und dass diese Qualität nicht von Sprachbildern aus dem professionellen Kontext überlagert wird. Ihre Philosophie wollen sie nicht auf den Denk- und Begriffshorizont der Professionellen reduzieren lassen. Anstatt den Begriff "Laienberatung" anzuwenden und ihn aus ihrer Sicht zu definieren, lehnen sie ihn rundweg ab - und damit auch die Hierarchiebeziehung, die dem Begriff innewohnt. Lediglich die Frauen des Leitungsteams sprechen manchmal in externen Diskussionen von Laienberatung. Offenbar verbindet sich für die Frauen mit dieser Bezeichnung eine zu große Nähe zu institutionalisierter Beratung: "Wenn ich eine Frau frage, ob sie bei uns als Caféstubefrau arbeiten möchte, und würde diese Tätigkeit mit Laienberatung bezeichnen, dann würde sie sagen: 'Ich unterhalte mich ja nur', und sie würde vermutlich nicht hier arbeiten wollen". Selbst erfahrene Beraterinnen wehren den Vergleich mit den Kategorien und Standards der Professionellen ab: "Ich fühle mich von dem Begriff 'Laienberatung' unter Druck gesetzt und denke, das ist ja etwas, was eigentlich ein Sozialpädagoge oder ein Psychologe macht". "Wenn man die Arbeit, die ich mache, mit den professionellen Begriffen belegt, dann bekomme ich Angst und fühle mich überfordert". Wenn sie über ihre Arbeit sprechen, verwenden sie keine Fachbegriffe, sondern entfalten durch das Erzählen beispielhafter Situationen einen Erklärungsraum, der es einem im Kategoriengerüst institutionalisierter Beratung denkenden Menschen erst einmal erschwert, das Spezifische ihres Beratungsansatzes zu erfassen.

Das Profi-Laien-Thema macht nicht vor den Türen des Mütterzentrums halt. Die damit verbundene Machtthematik spiegelt sich notwendigerweise auch in den Binnenbeziehungen wider, zumal die Frauen die Abwehr des Expertentums auch intern strikt betreiben. Sehr deutlich trat der innere Machtkampf im Verhältnis zu der Sozialpädagogin zutage, die die Mütterzentrumsfrauen vor einigen Jahren eingestellt hatten, um ihr Angebotsspektrum zu erweitern. Mit dieser Entscheidung hatten sie sich die Profiwelt bewusst in die Kultur des Mütterzentrums hereingeholt. Fünf Jahre lang dauerte dann aber der schwierige Annäherungsprozess, der mit vielen Auseinandersetzungen verbunden war. Obwohl allgemein bekannt war, was eine Sozialpädagogin macht, und obwohl sie ihren fachlichen Beitrag gewollt hatten, brachten sie ihr viel Unverständnis und Ablehnung entgegen: "Jetzt gibt sie wieder die Professionelle". Die Profifrau musste sich regelrecht hochdienen und um einen eigenwertigen Platz ringen. Dies machte sich insbesondere an ihrem Kampf um einen eigenen Raum fest, dessen Schutz und Abgeschiedenheit sie sich für intensive Beratungssitzungen wünschte und der für die anderen Mütterzentrumsfrauen zum Symbol professionellen Handelns wurde, gegen das sie sich heftig wehrten.

Strukturell gesehen wird im Mütterzentrum das Machtverhältnis zwischen Profis und Laien auf den Kopf gestellt. Hier haben die Laienfrauen die Bestimmungsmacht, sie haben die Führungspositionen inne, verfügen über die Schlüsselgewalt und entscheiden über die finanzielle Ausstattung von Projekten oder die Durchführung von Aktivitäten. Die Professionellen, die Sozialpädagogin, die Erzieherinnen in den Kindergruppen oder die Mitarbeiterinnen im Altenbereich sind bei ihnen angestellt. Berufliche Autorität soll bei ihnen nicht qua Zertifizierung dominieren, sondern sich durch ihr Wirken legitimieren. Allerdings bilden sich durch Unterschiede im Bildungsniveau, in der Reflektiertheit und Reflexionsfähigkeit, der persönlichen Autorität und der Autorität durch Erfahrungen interne Hierarchien und Autoritätsstufen heraus, die es ebenfalls immer wieder zu reflektieren und gegebenenfalls auch zu verändern gilt.

Mit ihrer eigenartigen Sprachlosigkeit, wenn es darum geht, die eigenen Kompetenzen zu benennen, ihr Beratungshandeln zu kennzeichnen und dessen Qualität zu beschreiben, bringen sich die professionellen Laienfrauen des Mütterzentrums in ein Dilemma. Durch die Weigerung, ihre Tätigkeiten begrifflich schärfer zu fassen, reduzieren sie ihre Kompetenz und ihr Können auf eine ethische Haltung und verallgemeinern ihr Tun als humanistisches Handeln. Ihr gezieltes und komplexes Vorgehen mit "sich kümmern" zu bezeichnen, pauschalisiert und entzieht es der systematischen Beschreibung. Da die Frauen keinen Anschluss an die Begriffe der Fachsprache suchen, werden sie einmal mehr nicht ernst genommen und abgewertet. "Sich kümmern" gilt nicht als fachlicher Begriff und somit als unprofessionell. Außenstehende Fachleute, die sich der Mütterzentrumskultur anzunähern versuchen, müssen viel Einsatz zeigen und werden auf die Ebene persönlichen Erlebens und auf das entsprechende Charisma der Institution verwiesen. Sie erhalten keine Hilfestellung durch eine dem System gemäße Sprache. Würden die Frauen andererseits die Fachbegriffe der Profiwelt verwenden, würden sie in deren gängige Kategorien eingeordnet werden und müssten befürchten, das Eigentliche ihres Ansatzes und ihrer Philosophie zu verlieren.

Eine dualistische Verhandlung des Profi-Laien-Verhältnisses birgt die Gefahr, in der Logik der Abwehr zu verharren. Abwehr überwindet nicht, sie akzeptiert vielmehr die Verhältnisse und trägt zu ihrer Manifestation bei. Mit der bloßen Zurückweisung professioneller Kategorien und Standards als Handlungsrahmen anerkennen die Nichtprofis deren Dominanz. Die Frauen des Mütterzentrums wollen anders sein und als Beratungseinrichtung ihrer Prägung ihren eigenen Weg gehen. Sie vergleichen sich aber ständig mit professioneller Beratung und wollen doch am Vergleich nicht gemessen werden. So oszillieren sie zwischen Annäherung und Abwehr. Solange sie sich über Abgrenzung definieren, werden sie sich jedoch in einem Abhängigkeitsverhältnis bewegen und sich zugleich von ihren eigenen Werten entfremden - wollen sie doch nicht Abgrenzung und Abwertung kultivieren, sondern Integration als eine ihrer zentralen Stärken.

Erst wenn die Frauen ihre eigenen Standards formulieren, in die Debatte einführen und damit eine echte Auseinandersetzung mit den Professionellen beginnen, werden sie sich aus dieser Zwickmühle befreien. Es wächst die Bereitschaft, in die Vorhand zu gehen und Definitionsmacht zu gewinnen: "Die Verweigerung ist noch da, aber sie darf jetzt offen thematisiert werden. Früher hätten wir das nicht zugelassen, da waren wir noch nicht soweit".

Soziale Unterstützung und Beratung in der Lebenswelt

In Einrichtungen wie dem Mütterzentrum Salzgitter ist verwirklicht, was anderenorts in der Sozialen Arbeit gefordert wird. Sie orientieren sich radikal und konsequent an den Anliegen und Bedürfnissen der Menschen, setzen an deren Fähigkeiten an und verknüpfen Alltagsnähe mit einem umfassenden Unterstützungsansatz. Aktivierung von Selbsthilfekräften ist verbunden mit gezielter fachlicher Beratung, und die psychosoziale Unterstützung ist nicht reduziert auf eine beratend-therapeutische Dimension.

Beratungsarbeit ist nahe an den Adressaten, die Beraterinnen pflegen keinen professionellen Habitus, die Effekte der Institutionalisierung sind minimiert. Die Übergänge von ganz alltäglichen Situationen zu intensiven Beratungsgesprächen gestalten sich nahtlos und organisch. Persönliche Schwierigkeiten werden in Zusammenhang mit den Lebenslagen der Menschen gesehen und können in einer Art und Weise angesprochen und aufgegriffen werden, die diesen entspricht. Beratung kann in Anspruch genommen werden, ohne den Umweg über eine Defizitzuschreibung und deren anschließender Akzeptanz durch die Betroffenen zu gehen. Die Problemdefinitionen passen zu den Alltagsdefinitionen der Menschen.

Es ist an der Zeit, solche Formen basis- und lebensweltorientierter Beratung aus ihrer strukturellen und ideologischen Zurücksetzung herauszuführen und sie als eigenständige und mit ihren Möglichkeiten ebenbürtige Spielarten anzusehen. Wer einen ebenso wertvollen Beitrag wie institutionelle Beratung leistet, hat Anspruch auf einen angemessenen Platz in der Praxis der psychosozialen Versorgung. Es gilt Benachteiligung zu überwinden: Zum einen, indem die erbrachten Leistungen nicht nach Scheinqualifikationen, sondern nach inhaltlichen Gütekriterien bewertet und in der Folge auch entsprechend finanziell honoriert werden. Zum anderen, indem das Verhältnis zwischen den Praxisexpertinnen und den Professionellen nicht länger durch eine abwehrende und abwertende Haltung bestimmt ist: "Der 'Aufstieg der Experten', der fachlich geschulten Spezialisten, stempelt lebenspraktisches Wissen zu Laienwissen und wertet alltägliche Hilfeleistungen tendenziell als (...) stümperhafte Formen der Unterstützung ab" (Olk 1989, S. 203).

Für das Geflecht der psychosozialen Versorgung geht es darum, Versäulung aufzuheben, die Schnitt- und Überschneidungsbereiche auszubauen, nahtlose Übergänge zwischen verschiedenen Unterstützungsformen herzustellen sowie Zusammenarbeit und Vernetzung zu fördern. Kriterien wie das der fachlichen Kompetenz eignen sich nur bedingt dafür, "beruflich-entgeltlich erbrachte medizinische oder soziale Dienste von ehrenamtlichen zu unterscheiden" (Kammerer & Deutsch 1984, S. 22). Dass beispielsweise der Arbeitskreis der Gesellschaft für Sozialen Fortschritt es schon 1984 für unzulässig ansah, die fachliche Kompetenz ehrenamtlicher Tätigkeit gegenüber einer hauptberuflichen als geringer zu bewerten, erhält im Lichte der Entwicklungen bürgerschaftlichen Engagements neue Aktualität.

Gesellschaftliche Tätigkeiten und ihre Sinngebung sind stark im Wandel. Es werden im öffentlichen Raum zunehmend Orte und Strukturen gebraucht, die den Menschen Möglichkeiten und Gelegenheiten bieten, sich entfalten und Sinn finden zu können. Beratung muss sich hier einknüpfen und Unterstützung dort bieten, wo sich Lebensprobleme zeigen.

Mütterzentren sind solche Orte. Sie bieten sinngebende Tätigkeiten und weisen mit ihrer Verschränkung von Selbsthilfe und institutionellen Angeboten einen Weg, wie durch die Integration professioneller Beratung in eine gemeinwesenorientierte Einrichtung die Spaltung zwischen Laien und Professionellen überbrückt und die Vielfalt an Möglichkeiten von Beratungsarbeit erweitert werden können.

Anmerkung

Der Beitrag beruht auf Interviews, die im Dezember 1998 im SOS-Mütterzentrum Salzgitter geführt worden sind. Zitate ohne Quellenangaben entstammen diesen Gesprächen.

Literatur

Arbeitsgruppe "Familienzentrum Neuperlach" (1980). Eine Beratungsstelle für sozioökonomisch benachteiligte Familien in München. In H. Gerlicher (Hrsg.), Prävention. Vorbeugende Tätigkeiten in Erziehungs- und Familienberatungsstellen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Frommann, Anne, Schramm, Dieter & Thiersch, Hans (1976). Sozialpädagogische Beratung. Zeitschrift für Pädagogik, 5, 715-742.

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Thiersch, Hans (1986). Die Erfahrung der Wirklichkeit. Perspektiven einer alltagsorientierten Sozialpädagogik. Weinheim, München: Juventa.

Thiersch, Hans (1989). Homo Consultabilis: Zur Moral institutionalisierter Beratung. In K. Böllert & H.-U. Otto (Hrsg.), Soziale Arbeit auf der Suche nach der Zukunft. Bielefeld: Böllert, KT-Verlag.

Thiersch, Hans (1990). Zur geheimen Moral der Beratung. In E. J. Brunner & W. Schönig (Hrsg.), Theorie und Praxis von Beratung. Freiburg i.Br.: Lambertus.

Thiersch, Hans (1991). Soziale Beratung. In M. Beck, G. Brückner & H.-U. Thiel (Hrsg.), Psychosoziale Beratung. Klient/inn/en - Helfer/inn/en - Institutionen. Tübingen: Dgvt-Verlag.

Thiersch, Hans (1992). Lebensweltorientierte Beratung. Weinheim, München: Juventa.

Zygowski, Hans (1987). Psychotherapie und Gesellschaft. Therapeutische Schulen in der Kritik. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.

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Autor

Reinhard Rudeck
Sozialpädagogisches Institut
im SOS-Kinderdorf e.V.
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Tel.: 089/12606-424
Email: rudeck.spi@sos-kinderdorf.de
Website: http://www.sos-kinderdorf.de/spi

Quelle

Aus: Sozialpädagogisches Institut im SOS-Kinderdorf e.V. (Hrsg.), Die Rückkehr des Lebens in die Öffentlichkeit. Zur Aktualität von Mütterzentren. Neuwied: Luchterhand 2000. Eingestellt am 29.05.2002, überprüft im März 2015