Nach dem Amoklauf im Erfurter Gymnasium: Es geht um die kulturelle Verantwortung für Bilderwelt und Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen

Ben Bachmair

 

Das Entsetzen angesichts der Wahnsinnstat eines jungen Mannes gegen die Lehrer (und Schüler) seiner Schule weicht jetzt der öffentlichen Trauer und dem Versuch einer Verständigung über Gründe und Hintergründe. Nach dem ersten Wochenende zwischen Wahn und Alltag zeigt unsere Gesellschaft ihre förmliche Trauer und benutzt dazu auch ihre Medien Fernsehen, Zeitung oder Website. Still bei Schweigeminuten verharrende Schülerinnen und Schüler sind allenthalben auf Titelseiten der Zeitungen zu sehen. "Auf dem Stundenplan steht Trauerarbeit" schreibt die Augsburger Allgemeine, die Süddeutsche: "Der Tag, an dem die Gedanken auftauten". Noch gilt dem Täter diese Trauer nicht. An ihm machen sich bisher nur die Versuche fest zu verstehen, welches allgemeine Muster sich hinter der Einzeltat verbirgt. Noch ist der Disput tastend, woher denn dieser individuelle Gewaltausbruch kommt. In der Politik tauchen erste Handlungsabsichten auf, etwas zu verändern oder zu beeinflussen.

Diskurse auf der Suche nach Mustern

Die vertraute eindimensionale Ursachenforschung und Schuldzuweisung bleibt im Moment wohltuend marginal. Die Suche nach Mustern und Ursachen richtet sich ebenso auf den Waffenbesitz und den sozialen Rahmen des Schützenvereins wie auf die Schule, die mittels Relegation brachial in das Leben eines ihrer Mitglieder eingreift. Die öffentlich angebotenen Gewaltdarstellungen im Fernsehprogramm, die Verfügbarkeit indizierter oder auch mit Altersfreigaben versehener Videos und die auf individuellen Spiel- und Fantasiehandlungen basierenden Computerspiele wie "Counter-Strike" werden diskutiert. Dieser durch den Schock aufgebrochene öffentliche Diskurs wird sich, falls er nicht wieder nur zur Reaktion auf mediale Schreckens-Events verkommt, noch mit einer Reihe von Facetten unseres Lebens beschäftigen und nach Verbindungsfäden suchen mit dem Ziel, ein Muster zu identifizieren. Auch die Medienpädagogik sollte es zum Anlass nehmen, über ihren Aufgabenbereich nachzudenken.

Schizophrene Wahnsinnstat und Action-Szenario

Es wäre falsch, sich angesichts einer schrecklichen Tat doch wieder das abgenutzte Modell aufnötigen zu lassen, die Flut von Gewaltdarstellungen als Ursache individueller Gewalthandlungen zu identifizieren. Mittels dieses Modells ließe sich die Medienpädagogik nur von einer ihrer wichtigen Aufgabe abhalten, über die Sozialisationsfunktion der Medien im Alltagsleben von Kindern und Jugendlichen kritisch nachzudenken. Medienpädagogisch geht es um die Frage, wie sich Medien in die Erlebnis- und Handlungsweisen junger Menschen "mischen", welche Dynamik Medien für die Formen entwickeln, wie junge Menschen heute "in der Welt" sind. Trotzdem macht nachdenklich, dass sich die Amok-Tat in der Erfurter Schule, wie wir sie bisher kennen, ohne Schwierigkeiten als Szenario eines Actionfilms wiedergeben lässt. Auch die Vergleichbarkeit mit Computerspielen ist verblüffend. Es geht nicht um die Frage, was daran ursächlich sein könnte. Dieser Frage läge die einfache Hoffnung auf eine schnelle Reparatur zugrunde. Reparatur hieße, der Imitation der Medienvorlage durch Zensur oder harmonische Vorlagen einen Riegel vorzuschieben oder die Imitation vielleicht sogar zu kanalisieren.

Mediensozialisation

Mediensozialisation läuft anders. Die vielen Mosaik-Steinchen unserer Gesellschaft, unserer Kultur und unseres Alltagslebens sind alles andere als deckungsgleich; aber sie greifen ineinander: Die schicksalhafte neue Dynamik der Individualisierung gesellschaftlicher Spannungen und der narzisstische Einzelkämpfer auf dem Display; die Konkurrenz ohne Solidarität und die realitätsnahe Kampfdarstellung ohne die Empathie für die Verletzlichen und Verletzten, - hier zeigen sich potentielle Koppelungen.

Kindeswohl und Konsumgesellschaft

Der Schutz von Kindern und Jugendlichen in Bezug auf Medien hat die richtige Zielsetzung, nämlich vom Kindeswohl auszugehen und das Publikationsinteresse der Massenkommunikation dem Kindeswohl unterzuordnen. Der Kinder- bzw. Jugendmedienschutz nimmt das Wohl der Kinder als Ausgangspunkt, um z.B. im Fernsehen zu zeitlichen Begrenzungen der Ausstrahlung von Programmen zu kommen. Kein Medium darf Kinder als Mediennutzer in ihrer Entwicklung und in ihrer Persönlichkeit hemmen, stören und schädigen. Um dies einzuschätzen, sind nicht nur Einzelheiten medialer Darstellungen, sondern auch die Darstellungen als Ganzes und deren Gesamtwirkung zu bewerten. Dies funktioniert im Großen und Ganzen als Prüfsystem recht gut. Aber was bedeuten Jugendschutzgrenzen in einer Konsumgesellschaft, in sich der Kinder und Jugendliche leicht über Grenzen hinwegsetzen? In diesem Widerspruch von Kindeswohl und Konsumgesellschaft greifen keine vormundschaftlichen Fantasien. Es gibt zwei Bereiche, in denen es für Pädagogik zu handeln gilt.

Medienkultur und Bildung

Da ist das Feld unmittelbarer Erziehung und des Unterrichtens. Hier geht es darum, Kinder in ihrer Subjektivität zu stärken, indem sie mit ihren Medienerlebnissen gestaltend und verarbeitend umgehen. Dazu gehört auch, in der schulischen Bildung Medien und ihre Art der Literalität als Teil unserer Kulturtechniken zu akzeptieren und Lehrer dazu didaktisch und emotional "fit" zu machen. Ansonsten spaltet sich die Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen in die der schulischen Lern-Kultur und die der Konsum-Medien. Der Anstoß, der von den tagtäglichen Erlebnissen der Kinder und Jugendlichen ausgeht, hilft auch in der Schule Bildung in Gang zu setzen, nicht zuletzt um prägend auf Medienkultur einzuwirken.

Dazu gehört zweifellos auch die persönliche Auseinandersetzung um Medienkonsum, die sich nicht nur um die Menge dreht, die sich auch an Inhalt und Darstellungsformen festmacht. Das ist vorrangig eine alltagspraktische Angelegenheit, zu der sich die Erwachsene, ob Medienpädagogen, Lehrer oder Eltern, Zeit nehmen müssen. Bei der Auseinandersetzung um Grenzen brauchen Kinder und Jugendlichen aber auch gute Chancen, um als "Bestimmer" die Auseinandersetzung gewinnen zu können und zu dürfen. Dabei entsteht bei Kindern und Jugendlichen nach und nach ein realistisches Bild von Lebenszusammenhängen, das sehr wohl auch in Lebenskrisen hilfreich sein kann.

Medienkultur als öffentliche Angelegenheit im Interesse der Verletzlichen

Es gibt ein zweites Feld, in das Medienpädagogik bislang kaum Einlass fand. In ihm findet die Entwicklung der Medien vom Kulturgut zum Konsumgut statt. Wer bedenkt hier die Verletzlichkeit der Kinder? Wer schafft als Anwalt der Kinder Sensibilität für die aktuellen Sozialisationsformen, ohne dabei die eigene Kindheit zu verklären oder überholte Bildungsideen zu verfestigen? Wer streut in das eingefahrene Transmissionsgetriebe von Medienpolitik und Medienkultur Sand, um die rhetorischen Rituale zum Jugendmedienschutz wenigsten etwas zu stören?

Medienkultur sollte sich nicht zuletzt in der Perspektive der Verletzlichen entwickeln. Auch der Erfurter Täter war vor 10 Jahren ein hoffungsfrohes Grundschulkind, dessen Verletzlichkeit auf wenig Schutz traf. In einer sich zunehmend symbolisch organisierenden Welt der Medien-Güter und Netzwerke bekommt Mediensozialisation eine Schlüsselfunktion. Dies sollte nicht nur im erschütternden Extremfall öffentlich erörtern werden, wenn mediale Spielszenarien und Wahnwelt eines jungen Menschen auf schreckliche Weise passend erscheinen oder es vielleicht sogar sind.

Adresse

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Tel.: 0521.67788
Fax: 0521.67727
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Hinweis

Veröffentlicht am 28.07.2002; überprüft im März 2015