§ 4 Zusammenarbeit der öffentlichen Jugendhilfe mit der freien Jugendhilfe (2002)

Peter-Christian Kunkel

§ 4 Zusammenarbeit der öffentlichen Jugendhilfe mit der freien Jugendhilfe

(1) Die öffentliche Jugendhilfe soll mit der freien Jugendhilfe zum Wohl junger Menschen und ihrer Familien partnerschaftlich zusammenarbeiten. Sie hat dabei die Selbstständigkeit der freien Jugendhilfe in Zielsetzung und Durchführung ihrer Aufgaben sowie in der Gestaltung ihrer Organisationsstruktur zu achten.

(2) Soweit geeignete Einrichtungen, Dienste und Veranstaltungen von anerkannten Trägern der freien Jugendhilfe betrieben werden oder rechtzeitig geschaffen werden können, soll die öffentliche Jugendhilfe von eigenen Maßnahmen absehen.

(3) Die öffentliche Jugendhilfe soll die freie Jugendhilfe nach Maßgabe dieses Buches fördern und dabei die verschiedenen Formen der Selbsthilfe stärken.

Absatz 1

Satz 1

Das Ziel der gesetzlichen Regelung ist es, eine sinnvolle, auch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten zweckmäßige Zusammenarbeit zwischen öffentlicher und freier Jugendhilfe zu erreichen, um damit ein plurales Angebot zu gewährleisten, das die Verwirklichung des Wunsch- und Wahlrechts aus § 5 SGB VIII ermöglicht. Die Pflichtzusammenarbeit ist auf der einen Seite nicht auf Träger der öffentlichen Jugendhilfe beschränkt, sondern gilt auch für Gemeinden, die Jugendhilfeaufgaben wahrnehmen, ohne Träger der Jugendhilfe zu sein (§ 69 Abs. 5 SGB VIII). Auf der anderen Seite sind Partner der Zusammenarbeit nicht nur anerkannte oder geförderte Träger der freien Jugendhilfe, sondern auch sonstige Gruppierungen.

Gegenstand der Zusammenarbeit sind nicht nur Leistungen nach § 3 Abs. 2 SGB VIII, sondern auch die Erfüllung der anderen Aufgaben nach § 3 Abs. 3 SGB VIII.

Der Begriff der partnerschaftlichen Zusammenarbeit ist kein Rechtsbegriff, sondern ein eher sozialpädagogischer. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 18.7.1967 (E 22, 180) diesen Begriff als "dilatorischen Formelkompromiss" gewählt, d.h., dass mit diesem Begriff keine Rechtsfragen gelöst sind, sondern deren Lösung aufgeschoben und durch andere gesetzliche Regelungen zu gewinnen ist. Der Begriff der Partnerschaft umfasst gegenseitige Offenheit, Wertschätzung, Wärme und Vertrauen, also nicht justiziable Haltungen, die gerichtlich eingeklagt werden könnten. Umgekehrt fehlt es auf der Seite der freien Jugendhilfe an einer gesetzlichen Bindung zur Zusammenarbeit. Sie kann sich lediglich aus einer Selbstverpflichtung ergeben, die freie Träger eingehen, indem sie öffentlich-rechtliche Verträge (§ 53 SGB X) mit dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe schließen.

Die Pflicht zur Zusammenarbeit ergibt sich aus speziellen Regelungen, nämlich aus §§ 77 und 78a bis g SGB VIII für Vereinbarungen über Leistungen und Kosten; aus § 80 Abs. 3 SGB VIII für die Jugendhilfeplanung; aus § 4 Abs. 3 i.V.m. § 74 SGB VIII für die Förderung. Als Organisationsformen der Zusammenarbeit sieht das Gesetz in § 78 SGB VIII Arbeitsgemeinschaften vor; wichtigstes Instrument ist aber der Jugendhilfeausschuss nach § 71 SGB VIII. Im Jugendhilfeausschuss müssen alle wichtigen Fragen der Jugendhilfe behandelt werden, so dass die Träger der freien Jugendhilfe durch ihre starke Stellung in diesem Ausschuss maßgeblichen Einfluss in allen Fragen der Jugendhilfe haben. Bestrebungen, im Zuge des Modells der Neuen Steuerung das Jugendamt aufzulösen und durch Fachbereiche zu ersetzen, würden wegen der damit verbundenen Auflösung auch des Jugendhilfeausschusses die freien Träger zur Bedeutungslosigkeit verurteilen.

Konfliktfelder zwischen öffentlicher und freier Jugendhilfe treten in der Praxis auf, wenn Leistungsberechtigte sich eine Leistung beim freien Träger selbst beschaffen und wenn der öffentliche Träger bei einer vom freien Träger erbrachten Hilfe zur Erziehung im Hilfeplanungsverfahren mitwirken will. Eine Lösung dieser Konflikte ergibt sich aber nicht aus dem Gebot der partnerschaftlichen Zusammenarbeit, sondern aus den speziellen Regelungen des SGB (vgl. hierzu die Ausführungen bei § 3 SGB VIII).

Satz 2

Während Satz 1 ein Gebot der Zusammenarbeit enthält, ergibt sich aus Satz 2 ein Verbot der Einmischung. Es bezieht sich auf eine dreifache Autonomie des freien Trägers in erstens Zielsetzung, zweitens Durchführung der Aufgabe und drittens Gestaltung der Organisationsstruktur des freien Trägers. Zur Autonomie in der Zielsetzung gehört, dass der freie Träger Konzeptionen und Arbeitsweisen selbst bestimmt. Die Autonomie bei der Durchführung einer Aufgabe verlangt, dass der freie Träger die fachlichen Standards selbst festlegt. Autonomie in der Organisationsstruktur bedeutet, dass es dem freien Träger überlassen bleiben muss, wie er seine Sozialen Dienste organisiert und personell besetzt. Bei Personalauswahl und -führung darf der öffentliche Träger nicht hineinreden.

Auch § 17 Abs. 3 SGB I enthält eine Regelung des Verhältnisses zwischen öffentlichen und freien Trägern. Satz 3 bestimmt, dass die öffentlichen Träger die Selbstständigkeit in Zielsetzung und Durchführung der Aufgaben des freien Trägers zu achten haben. Die autonome Gestaltung der Organisationsstruktur enthält dagegen § 17 SGB I nicht. Wegen § 37 S. 2 SGB I hat die Regelung des § 17 SGB I Vorrang gegenüber der Regelung des § 4 SGB VIII.

Ein Spannungsverhältnis ergibt sich zwischen der Autonomie des freien Trägers einerseits und der Verantwortlichkeit des öffentlichen Trägers für die Aufgabenerfüllung andererseits. Dieses Spannungsverhältnis kann nur so aufgelöst werden, dass sich die Verantwortlichkeit des öffentlichen Trägers auf die Rechtmäßigkeit der Aufgabenerfüllung beschränkt, während die Fachlichkeit in der Verantwortung des freien Trägers verbleibt. Analog zur kommunalen Selbstverwaltung der Gemeinden, die in Art. 28 GG garantiert ist, kann man eine Art Rechtsaufsicht annehmen, während eine Fachaufsicht nicht besteht (a.A. hierzu Papenheim in LPK-SGB VIII, 2. Aufl. 2002, § 4 Rn 27). Weitergehend hat aber das Bundesarbeitsgericht (BAG ZfJ 2000, 72 mit Anm. Kunkel, ZfJ 2000, 60) ein fachaufsichtliches Weisungsrecht des öffentlichen Trägers gegenüber Mitarbeitern des freien Trägers angenommen.

Für die Praxis beispielsweise bei einer Hilfe zur Erziehung bedeutet dies, dass der öffentliche Träger im Hilfeplanungsverfahren beteiligt sein muss, um die Rechtmäßigkeit der Geeignetheit der Hilfe sicherzustellen. Seine Beteiligung endet aber bei der Durchführung der Hilfe durch den freien Träger.

Für den Datenschutz enthält § 61 Abs. 4 SGB VIII eine spezielle Regelung zur Sicherung rechtmäßiger Aufgabenerfüllung, indem dort dem öffentlichen Träger ausdrücklich die Verantwortung dafür auferlegt wird, dass bei der Führung einer Aufgabe durch den freien Träger die Datenschutzbestimmungen eingehalten werden.

Im Spannungsverhältnis zwischen öffentlichem und freiem Träger ist auch die Regelung des § 17 Abs. 3 S. 4 SGB I zu beachten. Er schließt die Anwendung des § 97 Abs. 2 SGB X aus und damit die Anwendung auch des § 89 Abs. 3 bis 5 SGB X. Dies bedeutet, dass einzelne, dort genannte Auftragsregeln nicht gelten, nämlich: Der freie Träger hat keine Pflichtauskunft zu erteilen oder Rechenschaft abzulegen; der öffentliche Träger ist nicht berechtigt, die Ausführung einer Aufgabe jederzeit nachzuprüfen; der öffentliche Träger kann den freien Träger nicht an seine Auffassung binden. Dagegen bleibt anwendbar § 97 Abs. 1 SGB X. Dies bedeutet, dass der öffentliche Träger gegenüber dem freien Träger für die rechtmäßige Aufgabenerfüllung verantwortlich bleibt.

Absatz 2

Historischer Hintergrund

Der hier geregelte Nachrang des öffentlichen Trägers gründet im Subsidiaritätsprinzip. Dieses wurde in der katholischen Soziallehre entwickelt. Papst Pius XI formulierte das Prinzip in der Enzyklika "Quadragesimo anno" 1931 mit folgenden Worten - und zwar in einem einzigen Satz: "Wenn es nämlich auch zutrifft, was ja die Geschichte deutlich bestätigt, dass unter den veränderten Verhältnissen manche Aufgaben, die früher leicht von kleineren Gemeinwesen geleistet wurden, nur mehr von großen bewältigt werden können, so muss doch unverrückbar jener oberste sozialphilosophische Grundsatz festgehalten werden, an dem nicht zu rütteln noch zu deuteln ist: wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen; zugleich ist es überaus nachteilig und verwirrt die ganze Gesellschaftsordnung".

Das Subsidiaritätsprinzip ist lediglich ein Baustein der katholischen Soziallehre und muss in seiner Wechselwirkung mit den anderen Prinzipien dieser Lehre gesehen werden. Aus dem Personalitätsprinzip leitet diese Lehre das Recht des Einzelnen auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit ab. Seine Persönlichkeit kann der Mensch aber nicht als Einzelkämpfer zur Geltung bringen, sondern nur als gemeinschaftsbezogenes Wesen. Daraus folgt das Solidaritätsprinzip, wonach es Aufgabe des Einzelnen ist, sich für seinen Nächsten zu engagieren. Um diese zwischenmenschliche Hilfe im gesellschaftlichen Bereich nicht zu behindern, fordert das Subsidiaritätsprinzip das Zurücktreten der staatlichen Gemeinschaft hinter die Tätigkeit der freien gesellschaftlichen Kräfte (heute "Zivilgesellschaft").

Vom Subsidiaritätsprinzip zum (relativen) Vorrang des freien Trägers

Vertreter der Sozialdemokratie zogen in den 1960er Jahren gegen die Regelungen des § 5 JWG vor das Bundesverfassungsgericht, weil sie der Auffassung waren, § 5 JWG verletze das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 GG) und das Prinzip der kommunalen Selbstverwaltung (Art. 28 Abs. 2 GG). § 5 Abs. 3 S. 2 JWG lautete: "Soweit geeignete Einrichtungen und Veranstaltungen der Träger der freien Jugendhilfe vorhanden sind, erweitert oder geschaffen werden, ist von eigenen Einrichtungen und Veranstaltungen des Jugendamts abzusehen". Das Bundesverfassungsgericht wies mit seinem Urteil vom 18.7.1967 (BVerfGE 22, 180) die Klage ab, weil § 5 JWG der freien Jugendhilfe nicht schlechthin einen Vorrang einräumen wolle, sondern durch das Zusammenwirken der Träger eine möglichst erfolgreiche Jugendhilfe unter Beachtung des koordinierten Einsatzes öffentlicher und privater Mittel anstrebe. Aus der Regelung ergebe sich keine Funktionssperre für den öffentlichen Träger; vielmehr sei die Regelung ein Instrument zur vernünftigen Aufgabenverteilung zwischen den Trägergruppen, um dadurch ein bedarfsentsprechendes und zugleich wirtschaftliches Angebot an Einrichtungen zu schaffen. Das Bundesverfassungsgericht vermeidet den Begriff des Vorrangs, spricht lediglich von einem "sogenannten Vorrang" (a.a.O., S. 203), der Begriff "Subsidiaritätsprinzip" kommt in der Entscheidung überhaupt nicht vor.

Erst mit der Entwicklung der Europäischen Union steigt der Begriff der Subsidiarität wie Phoenix aus der Asche auf und wird in Art. 23 Abs. 1 GG ausdrücklich verankert. Im Zusammenhang des Art. 23 meint er allerdings lediglich den Nachrang europäischer Regelungen im Verhältnis zu solchen des Nationalstaats. Im Jugendhilferecht nimmt § 4 Abs. 2 SGB VIII die Regelung des § 5 Abs. 3 S. 2 JWG fast wörtlich wieder auf. Während es sich bei § 5 JWG um eine Muss-Vorschrift handelte, ist § 4 SGB VIII als Soll-Vorschrift formuliert. Ein wesentlicher Unterschied ergibt sich daraus aber nicht, da auch eine Soll-Vorschrift ein "Muss" für den Regelfall beinhaltet, ein "Kann" lediglich bei atypischen Umständen des Einzelfalls zulässt. So gilt nach wie vor ein - allerdings relativer (eingeschränkter, begrenzter, bedingter) - Vorrang des freien Trägers, der den öffentlichen Träger dazu verpflichtet, dem freien Träger den Vortritt zu lassen, wenn dieser geeignete Maßnahmen schon anbietet oder rechtzeitig anbieten kann. Will beispielsweise der öffentliche Träger Hilfe zur Erziehung durch Sozialpädagogische Familienhilfe leisten, ist er daran gehindert, wenn freie Träger ein bedarfsgerechtes Angebot bereits machen oder rechtzeitig machen können. Ob das Angebot freier Träger bedarfsgerecht, also geeignet ist, muss der öffentliche Träger im Rahmen seiner Gesamtverantwortung und seiner Gewährleistungspflicht (§ 79 Abs. 1 und 2 SGB VIII) feststellen, wobei die Feststellung vom Jugendhilfeausschuss gem. § 71 Abs. 2 Nr. 2 SGB VIII, also unter Beteiligung der freien Träger, zu treffen ist. Damit der freie Träger seine Vorrangstellung einnehmen kann, muss der öffentliche Träger ihn durch materielle Förderung dazu befähigen, ihm also "hilfreichen Beistand" (Nell-Breuning, Baugesetze der Gesellschaft: Solidarität und Subsidiarität, Freiburg 1990, S. 79) leisten. Die passive Subsidiarität nach § 4 Abs. 2 SGB VIII setzt also die Förderpflicht nach § 74 SGB VIII als aktive Subsidiarität voraus.

Da der Vorrang der freien Träger kein absoluter ist, kann der freie Träger keine Förderung verlangen, wenn ein ausreichendes Angebot des öffentlichen Trägers bereits zur Verfügung steht oder mit verhältnismäßig geringen Mitteln (nämlich im Vergleich zur Schaffung neuer Angebote eines freien Trägers) zur Verfügung gestellt werden kann.

Auch mit dem Wunsch- und Wahlrecht nach § 5 SGB VIII kann nicht der Aufbau eines Angebots der freien Jugendhilfe erzwungen werden, wenn ein bedarfsgerechtes Angebot der öffentlichen Jugendhilfe bereits besteht. Das Wunsch- und Wahlrecht gibt nämlich lediglich ein Recht darauf, zwischen existierenden Einrichtungen und Diensten verschiedener Träger zu wählen. Ein bedarfsgerechtes Angebot liegt allerdings nur vor, wenn es plural ist. Im Rahmen seiner Gewährleistungspflicht nach § 79 Abs. 2 SGB VIII muss der Träger der öffentlichen Jugendhilfe dafür sorgen, dass ein plurales Angebot besteht. Ein solches liegt nur dann vor, wenn es die Ausübung des Wunsch- und Wahlrechts ermöglicht. Werden also beispielsweise Plätze in einem Waldorfkindergarten von Eltern gewünscht, muss der öffentliche Träger für die Bereitstellung solcher Plätze sorgen, auch wenn ein kommunaler Kindergarten bereits vorhanden ist. Soweit es für die Eltern zumutbar ist, kann auch auf die Plätze eines Waldorfkindergartens in einem Nachbarkreis verwiesen werden, wobei aber solche Plätze vom öffentlichen Träger am Wohnort der Eltern als dem örtlich zuständigen Träger bezahlt werden müssen.

Eine Grenze für die Ausübung des Wunsch- und Wahlrechts und damit die Schaffung eines pluralen Angebotes ergibt sich allerdings aus § 5 Abs. 2 SGB VIII insoweit, als es nicht zu unverhältnismäßigen Mehrkosten führen darf. Diese Grenze ist aber nur erreicht, wenn zum einen die Mehrkosten dieses Angebots gegenüber den Angeboten eines anderen Trägers ermittelt sind und zum anderen diese Mehrkosten außer Verhältnis stehen zu dem Gewicht des geäußerten Wunsches. Eine zusätzliche Grenze markiert § 5 Abs. 2 S. 2 SGB VIII, wenn dort das Wunsch- und Wahlrecht bezüglich einer Einrichtung für den Regelfall auf solche Einrichtungen beschränkt ist, mit denen eine Leistungsvereinbarung nach § 78b SGB VIII geschlossen worden ist. Auf den Abschluss einer solchen (generellen, also nicht der individuellen im Dreiecksverhältnis) Vereinbarung besteht unter den Voraussetzungen des § 78b Abs. 2 SGB VIII ein Rechtsanspruch des Trägers, wenn seine Einrichtung geeignet ist und wirtschaftlich geführt wird.

Eine Selbstbeschaffung der Leistung bei einem freien Träger durch den Leistungsberechtigten ist weder unter dem Gesichtspunkt des Vorrangs noch dem des Wunsch- und Wahlrechts gerechtfertigt. Für die Hilfe zur Erziehung und die Eingliederungshilfe schreibt § 36 SGB VIII nämlich einen Beschaffungsweg vor, wonach der Bedarf in einem Hilfeplanungsverfahren in der Verantwortlichkeit des öffentlichen Trägers zu ermitteln ist. Ohne ein solches Verfahren können beispielsweise die Kosten einer Legasthenie-Therapie nicht dem öffentlichen Träger präsentiert werden. Eine Ausnahme gilt für solche Fälle, in denen der öffentliche Träger eine unaufschiebbare Hilfe nicht rechtzeitig geleistet oder eine Hilfe zu Unrecht abgelehnt hat. Für die Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder regelt dies nunmehr § 15 SGB IX ausdrücklich.

Freie Träger im Wettbewerb mit privat-gewerblichen Trägern

Bedient sich der öffentliche Träger zur Erfüllung seiner Aufgabe des freien Trägers als Leistungserbringer, steht der freie Träger im Wettbewerb mit dem privat-gewerblichen Leistungserbringer. Dieser ist allerdings kein Träger der Jugendhilfe, wie sich aus dem historischen Verständnis des Subsidiaritätsprinzips ergibt und wie auch aus der Gegenüberstellung von Trägern der freien Jugendhilfe einerseits und Vereinigungen sonstiger Leistungserbringer andererseits in § 78e Abs. 3 SGB VIII folgt. Das Wunsch- und Wahlrecht aus § 5 SGB VIII erstreckt sich daher auch nicht auf privat-gewerbliche Leistungserbringer (a.A. aber beispielsweise Wiesner, SGB VIII, § 5 Rz 10).

Der privat-gewerbliche Leistungserbringer als Träger einer Einrichtung (also nicht etwa als Träger der Jugendhilfe, der er nicht ist) hat aber einen Anspruch auf Abschluss der Vereinbarungstrias nach § 78b Abs. 2 SGB VIII. Dazu muss er nicht einmal besser geeignet oder billiger sein als der freie Träger, da § 78b Abs. 2 SGB VIII es genügen lässt, wenn ein Träger der Einrichtung geeignet ist und wirtschaftlich handelt. Ist er aber billiger als ein freier Träger mit seiner Einrichtung, wird der öffentliche Träger ihn belegen. Immer häufiger wird dem freien Träger in diesem Wettbewerb die Luft ausgehen, so dass er sich aus bestimmten Bereichen der Jugendhilfe mehr und mehr zurückziehen wird. Die vom Subsidiaritätsprinzip gebotene Trägervielfalt ist dann zumindest in bestimmten Bereichen nicht mehr gewährleistet. Auch das Wunsch- und Wahlrecht kann nicht als Instrument zur Bestandserhaltung von Angeboten freier Träger eingesetzt werden, da es für den Regelfall auf Einrichtungen begrenzt ist, mit denen eine Vereinbarung nach § 78b SGB VIII abgeschlossen worden ist.

Was spricht dafür bzw. dagegen, dass privat-gewerbliche Träger als freie Träger der Jugendhilfe tätig werden?

Contra:

  1. § 78e Abs. 3 SGB VIII stellt die sonstigen Leistungserbringer den Trägern der freien Jugendhilfe gegenüber.
  2. Die Regelungen zur Trägerschaft der Jugendhilfe (§§ 3, 4 SGB VIII) erwähnen privat-gewerbliche Träger nicht.
  3. Die Regelung über die Zusammenarbeit im Sozialleistungsbereich (§ 17 Abs. 3 SGB I) erwähnt ebenfalls privat-gewerbliche Träger nicht.
  4. Die Vorrangregelung des § 4 Abs. 2 SGB VIII ("passive Subsidiarität") besteht nur zugunsten anerkannter Träger der freien Jugendhilfe; eine Anerkennung privat-gewerblicher Träger scheidet aber nach § 75 SGB VIII aus.
  5. Die Förderungspflicht des § 74 SGB VIII ("aktive Subsidiarität") beschränkt sich auf gemeinnützig arbeitende freie Träger.
  6. Die (gesellschaftspolitische) Begründung des Vorrangs freier Träger ergibt sich aus dem Subsidiaritätsprinzip.
  7. Das Subsidiaritätsprinzip ist Konsequenz des Solidaritätsprinzips.
  8. Zweck des Subsidiaritätsprinzips ist auch die Förderung ehrenamtlicher Tätigkeit ("bürgerschaftliches Engagement").
  9. Zweck des Subsidiaritätsprinzips ist ferner, weltanschauliche Pluralität in der Gesellschaft zu ermöglichen.
  10. Kennzeichen der freien Jugendhilfe ist die jeweils unterschiedliche Wertorientierung (§ 3 Abs. 1 SGB VIII).

Pro:

(Möglicherweise) Wandlung freier Träger zu gewinnorientierten Unternehmen in der gesellschaftlichen Realität.

Ergebnis:

Privat-gewerbliche Träger sind keine Träger der freien Jugendhilfe und können auch nicht als solche behandelt werden. Das Wunsch- und Wahlrecht (§ 5 SGB VIII) bezieht sich nur auf freie Träger (ebenso VG Minden mit Urteil vom 25.2.1997; DAVorm 1997/812 mit Anm. Oehlmann-Austermann; Hauck/ Mainberger, SGB VIII, § 5 Rz 5; Papenheim/ Kunkel, LPK-SGB VIII, 2. Aufl. 2001, § 5 RN 10; a.A. Wiesner, SGB VIII, 2. Aufl. 2000, § 5 Rdnr. 10; Schellhorn, SGB VIII/KJHG, 2. Aufl. 2000, § 5 Rz. 16).

Das EU-Wettbewerbsrecht

Zu den unmittelbar wirkenden Rechten des EU-Gemeinschaftsrechts gehört das Recht auf unverfälschten Wettbewerb (Art. 87 Abs. 1 EG-Vertrag und EG-Verordnung Nr. 69/2001). Danach sind staatliche Beihilfen (bis zu 100.000 EUR über einen Dreijahreszeitraum für das einzelne Unternehmen) verboten. Das EU-Wettbewerbsrecht gilt nur für entgeltliche, erwerbsmäßige Tätigkeiten mit grenzüberschreitenden Auswirkungen.

a. Voraussetzungen für die Anwendung des EU-Gemeinschaftsrechts

Die EU-Kommission (Mitteilung vom 20.09.2000, ABl. 2001 C 17/4) unterscheidet zwischen Tätigkeiten im Bereich der sozialen Sicherheit und den marktbezogenen Leistungen der Daseinsvorsorge als Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse. Nur für letztere gilt das EU-Wettbewerbsrecht. Von wirtschaftlichem Interesse sind alle Tätigkeiten, die gegen Entgelt erbracht werden. Auf eine Gewinnerzielungsabsicht kommt es dabei nicht an. Damit scheiden solche Tätigkeiten freier Träger aus, die für den Leistungsempfänger kostenlos sind. Muss er aber ein Entgelt entrichten, liegt eine Tätigkeit von wirtschaftlichem Interesse vor. Dies gilt auch dann, wenn der Leistungsempfänger das Entgelt nicht unmittelbar bezahlt, sondern das Entgelt durch Kostenübernahme vom öffentlichen Träger an den freien Träger bezahlt wird (siehe die Übersicht zum Dreiecksverhältnis). Ebenfalls ohne Belang ist, ob der freie Träger bei seiner Tätigkeit nach § 74 SGB VIII subventioniert wird oder ob er eine Entgeltvereinbarung nach § 77 oder nach § 78b SGB VIII abgeschlossen hat.

Tabelle 1: Zuwendungsvertrag und Leistungsvertrag im Vergleich (aus Kunkel, Grundlagen des Jugendhilferechts, 4. Aufl. 2001)

 

Zuwendungsvertrag

Leistungsvertrag1

Rechtsgrundlage:

§ 74 SGB VIII

§ 77 oder2 § 78b SGB VIII

Vertragstyp:

öff.-rechtl. (subordinations-rechtl.) Vertrag (§ 53 SGB X)

öff.-rechtl. (koordinationsrechtl.) Vertrag (§§ 53, 55 SGB X)

Vertragspartner des öffentlichen Trägers:

Freier Träger

Freier Träger oder3 sonstige Leistungserbringer

Trägervoraussetzungen:

Anforderungen nach § 74 Abs. 1 S. 1 Nr. 1-5 SGB VIII

Geeignetheit des Trägers

Rechtsanspruch des Vertragspartners:

Rechtsanspruch auf Förderung dem Grunde nach (auch d. VA); Rechtsanspruch auf Ausübung fehlerfreien Ermessens bezüglich Art und Höhe der Förderung

ja (str.)

Gegenstand:

Förderung (Subvention) von autonomen Zwecken des freien Trägers

Aufgabenwahrnehmung für den öffentlichen Träger ("Erfüllungsgehilfe") im Einzelfall4 gegen Zahlung eines Entgelts

Leistungsverhältnis:

Leistung ohne Gegenleistung

Synallagmatisches Austauschverh.

Art der Förderung:

Pauschale Zuwendung durch Projektförderung oder institutionelle Förderung (Anteils-, Fehlbedarfs-, Festbetragsfinanzierung)

Entgelt als Pauschale oder Einzelleistungsentgelt

Zahlungsweise:

Endabrechung (Übertragbarkeit, Deckungsfähigkeit, Rücklagenbildung)

nach Vereinbarung (jährliche Pauschale)

Nachweise:

Verwendungsnachweis

Leistungsnachweis

Eigenleistung notw.:

ja (Teilfinanzierung)

nein (Vollfinanzierung)

Steuer:

ertrags- und umsatzsteuerfrei

ertragssteuerfrei; evtl. aber umsatzsteuerpflichtig (str.)

Ausschreibung:

keine Ausschreibungspflicht

(wohl) keine Ausschreibungspflicht

EU-Wettbewerbsrecht:

erlaubte Subventionierung (str.)

kein Wettbewerbsverstoß bei Einbeziehung privat-gewerblicher Unternehmer

Zuständigkeit:

für den Inhalt: JHA, für den formellen Abschluss: Verwaltung

für die Grundsätze des Vertragsinhalts: JHA; für Einzelheiten und formellen Abschluss: Verwaltung

1 genauer: Leistungs-, Entgelts- u. Qualitätsentwicklungsvereinbarung über Leistungen (od. andere Aufgaben)
2 im Anwendungsbereich des § 78a SGB VIII: aufgezählte Leistungen im stationären und teilstationären Bereich; erweiterungsfähig nach Landesrecht
3 im Anwendungsbereich des § 78a SGB VIII
4 im Anwendungsbereich des § 78a; nach § 77 auch allgemeine Förderungsangebote

Weitere Voraussetzung ist, dass der freie Träger als "Unternehmen" tätig wird (Art. 81 EG-Vertrag). Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs umfasst dieser Begriff "jede eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einheit, unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung" (EuGH, C-41/90, Slg. 1991, S. 1979). In der "Sodemare-Entscheidung" hat der EuGH die Wettbewerbsregeln auf den Betreiber von Seniorenwohnheimen angewandt, die ihre Leistungen im Rahmen von Verträgen über die gesundheitsbezogene Sozialhilfe erbringen (EuGH, C-70/95, Slg. 1997, S. 3395). Auch die freien Träger bezeichnen sich selbst als Unternehmen; so ist dem Leitbild des Deutschen Caritasverbandes zu entnehmen, dass er "soziales Dienstleistungsunternehmen" ist, das "unternehmerisch" arbeitet, sich "wirtschaftlich" verhält und nach dem "Grundsatz der Wirtschaftlichkeit" handelt.

b. Die Folge der Anwendbarkeit des EU-Wettbewerbsrechts

Nimmt man an, dass freie Träger Unternehmen sind, deren Tätigkeiten von wirtschaftlichem Interesse sind, dürfen sie keine Beihilfen (weder in Form der Subventionierung nach § 74 SGB VIII noch in Form der Entgeltvereinbarung nach § 78d SGB VIII) erhalten, soweit sie ihre Leistungen nicht kostenlos erbringen. Ein Wettbewerbsverstoß läge aber dann nicht vor, wenn der ausländische Mitbewerber, also auch der privat-gewerbliche Träger, dieselbe Beihilfe erhielte wie der freie Träger.

c. Einwand gegen die Anwendung des EU-Wettbewerbsrechts

Maßgeblich ist die von der Kommission in ihrer Mitteilung aus dem Jahr 2000 (a.a.O.) vorgenommene Unterscheidung zwischen Leistungen der sozialen Sicherheit und Leistungen der Daseinsvorsorge von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse. Zu den Leistungen der sozialen Sicherheit zählen "diverse nichtwirtschaftliche Tätigkeiten von Einrichtungen wie Gewerkschaften, politischen Parteien, Kirchen und religiösen Gemeinschaften, Verbraucherverbänden, wissenschaftlichen Gesellschaften, Wohlfahrtseinrichtungen sowie Schutz- und Hilfsorganisationen. Sobald diese Einrichtung jedoch bei der Erfüllung eines Gemeinwohlauftrags wirtschaftliche Tätigkeiten aufnimmt, sind hierauf die gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften nach Maßgabe der Grundsätze dieser Mitteilung und unter Berücksichtigung des besonderen sozialen und kulturellen Umfelds, in dem die betreffenden Tätigkeiten ausgeübt werden, anzuwenden" (Mitteilung der Kommission a.a.O.). Selbst bei Annahme einer wirtschaftlichen Tätigkeit ist das EU-Wettbewerbsrecht also nur unter Berücksichtigung des besonderen sozialen Umfelds anzuwenden. Zu diesem besonderen sozialen Umfeld gehört die Ableitung der Tätigkeit freier Träger aus dem Subsidiaritätsprinzip. Daraus folgt, dass die Tätigkeit freier Träger in der Wurzel eine andere ist als die privat-gewerblicher Träger. Sie wurzelt im Solidaritätsprinzip und nicht im Marktprinzip. Die EU-Wettbewerbsregeln können daher nur auf privat-gewerbliche Träger Anwendung finden.

Absatz 3

Während Absatz 2 die "passive Subsidiarität" regelt, verlangt Absatz 3 "aktive Subsidiarität", indem der öffentliche Träger verpflichtet wird, den freien Träger finanziell zu fördern. Die spezielle Rechtsgrundlage für die Förderung ist aber § 74 SGB VIII, auf den hier verwiesen wird.

Als besonderes Ziel der Förderung hebt das Gesetz hervor, dass die verschiedenen Formen der Selbsthilfe gestärkt werden sollen. Damit wird einer gesellschaftlichen Entwicklung Rechnung getragen, die dadurch gekennzeichnet ist, dass sich immer mehr Menschen zu Selbsthilfegruppen und Bürgerinitiativen zusammenschließen, ohne sich an einen Träger binden zu wollen. Neue Konzepte bürgerschaftlichen Engagements zur Stärkung der Selbsthilfe sind besonders förderungswürdig.

Literatur

Siehe bei § 1 SGB VIII und bei § 3 SGB VIII. Zusätzlich:

Backhaus-Maul, H.: Die Subsidiaritätsidee in den Zeiten der Kostenrechnung - Vertragsverhandlungen zwischen Sozialverwaltungen und Wohlfahrtsverbänden. ZfJ 2000, 161.

Fieseler, G.: Öffentliche und freie Jugendhilfe - Zusammenarbeit und Förderung. ZfJ 1995, 194.

Gerlach, F.: Leistungserbringung in der Jugendhilfe durch privat-gewerbliche und freiberufliche Anbieter. ZFSH/SGB 2000, 145.

Häbel, H.: Verpflichtung der öffentlichen Träger zur Förderung der freien Jugendhilfe. ZfJ 1997, 109.

Kämper, B.: Kindergärten in kirchlicher Trägerschaft. Verfassungs- und verwaltungsrechtliche Fragen. Berlin 1991.

Kunkel, P.-C.: Erosion des Subsidiaritätsprinzips? Sozialextra 2002, Heft 1, S. 16.

Luthe, E.-W.: Gemeinnützige Sozialunternehmen im europäischen Wettbewerb. NDV 2000, 361.

Merchel, J.: Wohin steuert die Jugendhilfe? Innovationsfähigkeit der Jugendhilfe zwischen neuen Steuerungsmodellen und Debatten um Jugendstrukturen. Jugendhilfe 1999, 138.

Schmitz-Elsen, J.: Aufgabenverteilung zwischen freien und öffentlichen Trägern der Sozial- und Jugendhilfe. NDV 1990, 265.

Schnabel, W.: Freie Bittsteller der Jugendhilfe. Jugendhilfe 1999, 339.

Schröder, J.: Wettbewerb in der Kinder- und Jugendhilfe. NDV 1999, 201.

Struck, N.: Partnerschaftliche Kooperation oder marktwirtschaftlicher Wettbewerb? Zukunft der Zusammenarbeit von öffentlicher und freier Jugendhilfe. ZfJ 2000, 57.

Uslar, G.: Zusammenarbeit öffentlicher und freier Träger in der Jugendhilfe. Blätter der Wohlfahrtspflege 1990, 318.

Wiesner, R.: Zur Tätigkeit privat-gewerblicher Träger in der Jugendhilfe. RdJB 1997, 279.

Autor

Prof. em. Peter-Christian Kunkel
Hochschule für öffentliche Verwaltung Kehl
Kinzigallee 1
77694 Kehl
Tel.: 07851/894112
Fax: 07851/894120
Email: kunkel@hs-kehl.de

Hinweis

Veröffentlicht am 13.03.2002, überprüft und aktualisiert im April 2015