Zwischen Exklusion und Inklusion. Das Leben von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung.

Jörg M. Fegert

Am 26. März 2009 ist die UN Behindertenrechtskonvention, zwei Jahre nach der Unterzeichnung durch die Bundesrepublik in Deutschland, in Kraft getreten. Das Übereinkommen und das Zusatzprotokoll waren am 13. Dezember 2006 in New York von der Weltgemeinschaft verabschiedet worden und am 3. Mai 2008, nach Ratifizierung durch 20 Vertragsstaaten, in Kraft getreten.

Artikel 3 der Behindertenrechtskonvention fordert die "volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft" und Einbeziehung in die Gesellschaft", und dies gilt selbstverständlich auch für Kinder und Jugendliche mit Behinderung. Zentral für das Verständnis ist der "Diversity-Ansatz", d.h. die Achtung der Unterschiedlichkeit von Menschen mit Behinderung und die Akzeptanz dieser Menschen als Teil der menschlichen Vielfalt und der Menschheit. Für Kinder und Jugendliche besonders relevant ist der Artikel 24, der unterstreicht, dass sie "nicht vom allgemeinen Bildungssystem wegen ihrer Behinderung ausgeschlossen werden sollen".

Zwischen Exklusion, Segregation und Inklusion

Durch die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention und durch die Bestimmungen der UN-Kinderrechtskonvention hat sich die Situation behinderter Kinder und Jugendlicher in Deutschland zwischen Exklusion, Segregation, Integration und Inklusion deutlich verändert. Sprachen wir im 10. Kinder- und Jugendbericht in unserer Expertise zu seelischer, geistiger und körperlicher Behinderung (Feger/ Frühauf 1999) noch von der Integration von Kindern mit Behinderungen - also davon, welche Anstrengungen nötig sind, dass Kinder in bestehende Einrichtungen integriert werden können -, ging schon der 13. Kinder- und Jugendbericht, der sich intensiv mit der Lebenslage von Kindern mit gesundheitlichen Belastungen auseinander setzte, vom Inklusionskonzept aus. Entgegen dem Versuch, in der offiziellen amtlichen deutschen Übersetzung die beiden Begriffe zu verwechseln, betrifft Inklusion eben die Umgestaltung der sozialen Umwelt als Voraussetzung für gemeinschaftliche Nutzung und gesellschaftliche Teilhabe durch alle Kinder und Jugendliche. Es geht um Einbezug von Anfang an - nicht um die Eingliederung behinderter Kinder und Jugendlicher, die dafür bestimmte Anforderungen erfüllen müssen, sondern die Anforderungen stellen sich zunächst einmal an die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen.

Individuelle Entscheidungen

Für Eltern ist derzeit, vor allem angesichts der häufig ideologisch geführten Inklusionsdebatte, die Orientierung und Entscheidung im Einzelfall sehr schwierig. Kann ihr Kind mit den bestehenden Beeinträchtigungen, am besten in einer hochspezialisierten, aber separierten Einrichtung gefördert werden, oder profitiert es am meisten vom Aufwachsen zusammen mit allen anderen Kindern?

Manchmal erscheint es so, wie wenn Inklusion, verkürzt mit gleiches Angebot und gleiches Recht für alle, missverstanden wird. Dies entspräche dem "Equality-Prinzip". Teilhabe ist aber immer ein zweiseitiger, individueller Prozess, der etwas mit den spezifischen Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen als Individuen zu tun hat und auch mit den Rahmenbedingungen im gesellschaftlichen Umfeld, also in der Schule. Teilhabe kann nicht durch Gleichbehandlung erzielt werden, sondern durch das Prinzip der "Equity", also durch eine angemessene Förderung, die im individuellen Fall zur Teilhabe nötig ist.

Inklusives Aufwachsen von Kindern ist als Differenzierungsstrategie zu konzipieren, nicht als Normalisierungsstrategie. Schon der 13. Kinder- und Jugendbericht 2009 forderte die Berücksichtigung des "Besonderen" und die individuelle Förderung in einem inklusiven Setting. Ein zentrales Problem bei der individuellen, am Kindeswohl orientierten Förderung ist die Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen Jugend- und Sozialhilfe mit einer Zuständigkeit der Jugendhilfe für Kinder und Jugendliche mit (drohender) seelischer Behinderung und einer Zuständigkeit der Sozialhilfe für Kinder und Jugendliche mit im Gesetz so genannter "geistiger Behinderung" und "körperlicher Behinderung".

Kritisch formuliert der 13. Kinder- und Jugendbericht, dass der Hilfebedarf häufig aus einer Angebots- und Institutionenlogik heraus formuliert wird und nicht den individuellen Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen entspreche. Es entstehen an den Schnittstellen der Systeme "Verschiebebahnhöfe" und bisweilen "schwarze Löcher". Insofern ist eine alte Forderung, um deren Umsetzung im Kontext der notwendigen Eingliederungshilfereform gerungen wird, die so genannte "Große Lösung", d.h. die Zuständigkeit der Jugendhilfe für alle Kinder und Jugendliche, ob mit oder ohne Behinderung.

Eingliederungshilfe, Hilfen zur Teilhabe

Betrachtet man die Vorgeschichte der Eingliederungshilfe, kommt man zurück in die Entstehungsjahre unserer sozialen Sicherungssysteme mit Bismarcks Sozialreformen. Bei der Einführung der gesetzlichen Krankenversicherung (1881), der gesetzlichen Unfallversicherung (1884) und der gesetzlichen Invalidenversicherung (1889) war es den Initiatoren dieser Sicherungssysteme wichtig, akute Krankheit von so genannten "stationären Leiden" - behinderten Zustandsbildern, die sich nicht mehr verändern - auch in Bezug auf die Zuständigkeit zu unterscheiden. 1906 fand auf Initiative des Orthopäden Biesalski, dem Gründer des Berliner Oscar-Helene-Heims, die erste deutsche "Reichskrüppelzählung" statt; und schon damals gab es eine Debatte zwischen diesem Initiator Biesalski, der vor allem an der Diagnostik und Erfassung jeglicher Fehlbildungen wissenschaftlich interessiert war, und dem Präsidenten des Reichsgesundheitsamts über die Verwendung des damaligen Begriffs "Krüppel".

Die Gegenposition war, dass man nur diejenigen Personen berücksichtigen sollte, "welche durch Verlust oder Gebrauchsunfähigkeit eines oder mehrerer Glieder in ihrer Erwerbsfähigkeit gänzlich behindert oder wenigstens beschränkt" sind. Dieser Blick auf die Funktionsfähigkeit, das Zurechtkommen im Alltag, bei Kindern häufig im schulischen und sozialen Bereich, später auch im Arbeitsleben, gerade im Rahmen von Ausbildungen, hat sich bis heute durchgesetzt.

Behinderungsdefinition

In § 2 SGB IX gibt es eine generelle Behinderungsdefinition, die in den unterschiedlichen Sozialgesetzbüchern aufgegriffen wird. Diese Definition im deutschen Sozialrecht ist prinzipiell zweigliedrig. Zuerst erfolgt eine diagnostische Feststellung des Abweichens der körperlichen Funktionen, der geistigen Fähigkeit oder der seelischen Gesundheit, und dieses Abweichen muss mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate bestehen. Bezogen wird das Abweichen auf den für das Lebensalter typischen Zustand. Die alleinige diagnostische Feststellung eines Abweichens reicht aber nicht aus, sondern in einem zweiten Schritt muss dieses Abweichen kausal zu einer Beeinträchtigung bei der Teilhabe führen.

In der Kinder- und Jugendhilfe hat sich in den letzten Jahren durch die Weiterentwicklung des § 35 a SGB VIII ein moderner Umgang mit dem Behinderungsbegriff, im Sinne dieser zweigliedrigen Feststellung, entwickelt. Es findet sich im Kontext der Jugendhilfe, also bei seelischer Behinderung, kein Verweis mehr auf die Wesentlichkeit der Behinderung. Bei drohender seelischer Behinderung wird genauso Abhilfe geleistet, um die Ausgrenzung gar nicht erst entstehen zu lassen, wie bei seelischer Behinderung. Es erfolgt kein Verweis mehr auf die alte Eingliederungshilfeverordnung mit ihren Krankheitsbildern, welche als wesentliche oder nicht wesentliche Behinderung definiert werden, jenseits der heute geltenden diagnostischen Systeme.

Des Weiteren wurde auf das Amtsarztgebot und auf das Erfolgskriterium verzichtet. Hierzu Wiesner (Kommentar SGB VIII, 5. Auflage 2015, RZ 8): "Gerade im Hinblick auf den Personenkreis von Kindern und Jugendlichen kann es keinen vernünftigen Grund für eine solche Leistungsbegrenzung geben, da damit deren Entwicklungschancen verkürzt und das generelle Ziel der Verbesserung der Teilhabe aufgegeben würde".

In der Sozialhilfe bestehen noch all diese Regeln, obwohl die Definition der "wesentlichen Behinderung" in § 53 Abs. 1 SGB XII völlig analog zur oben dargestellten zweigliedrigen Behinderungsdefinition aufgebaut ist und die "wesentliche" Einschränkung der Teilhabefähigkeit und nicht eine bestimmte Diagnose darüber entscheidet, ob eine "wesentliche Behinderung" besteht.

Verwirklichungschancen für alle Kinder

Kinder und Jugendliche mit Behinderung zwischen Exklusion, Separation und Inklusion benötigen wie alle Kinder und Jugendliche Verwirklichungschancen, d.h. laut dem Nobelpreisträger 1998, Armatya Sen, die Berücksichtigung der Kinderrechte, insbesondere der Rechte auf Informationsfreiheit und angemessene Berücksichtigung in allen sie betreffenden Verfahren, ökonomische Unterstützungsfaktoren, Ressourcen, soziale Chancen im Bildungswesen und in der gesundheitlichen Versorgung, letztendlich soziale Sicherheit und Nachteilsausgleich.

Das Teilhabekonzept ist gut nutzbar für die Beschreibung von Barrieren in Bezug auf die Inklusion und in der Hilfeplanung auch zur Beschreibung von unterstützenden und erleichternden Faktoren, die Exklusion oder Separation überwinden helfen. Betrachtet man also die Feststellung, so ist für die Begründung von Hilfen zur Teilhabe einerseits die Feststellung einer Diagnose erforderlich. Diese sollte nach den im SGB V geltenden Vorgaben, also derzeit der deutschen Version der ICD-10, erfolgen. Die Feststellung der individuellen Teilhabebeeinträchtigung kann dann in den Denkkategorien der ICF der Weltgesundheitsorganisation erfolgen, also der internationalen Klassifikation des Zurechtkommens im Alltag (International Classification of Functioning).

Generelle Aspekte einer Teilhabebeeinträchtigung sind ihre Pervasivität, also Auswirkungen in unterschiedlichen Bereichen, ihre Intensität und Chronizität. Bei der Hilfeplanung sind individuelle Voraussetzungen genauso zu berücksichtigen wie interaktionelle Voraussetzungen, d.h. Inklusion erfordert auch immer Überlegungen: Was kann sich in der Kita, Schule, Arbeit, im Sozialraum etc. verändern, damit das Kind, so wie es ist, besser dazugehören kann?

Mehrfachbehinderungen

Gerade weil Mehrfachbehinderungen eher die Regel als die Ausnahme sind, ist es sinnvoll, die mit der Einführung des SGB VIII entstandene künstliche Trennung in der Zuständigkeit für seelische Behinderung sowie für körperliche und geistige Behinderungen aufzugeben, um alle Kinder und Jugendliche von den erfolgreichen Konzepten der Hilfeplanung profitieren zu lassen. Voraussetzung wäre dann die Diagnose der vorliegenden seelischen Störung, körperlichen Störung und geistigen Beeinträchtigung nach den im Gesundheitswesen geltenden Standards durch dafür qualifizierte Heilberufe und darauf aufbauend die Feststellung, unter Federführung der Jugendhilfe, im partizipativen Zusammenwirken mit den Sorgeberechtigten, den betroffenen Kindern und Jugendlichen selbst und den sie versorgenden Personen aus den Heilberufen und anderen Helfern, die Feststellung der aus der beschriebenen Störung resultierenden individuellen Teilhabebeeinträchtigung und der am besten geeigneten Hilfen im Einzelfall.

Inklusive Lösung

Tatsächlich, den Inklusionsgedanken aufgreifend, wäre auch eine weitergehende inklusive Lösung denkbar, die Hilfen nicht nur bei einer medizinisch feststellbaren Diagnose als notwendige Voraussetzung, sondern auch bei feststellbaren Entwicklungsproblemen, die z.B. sozial verursacht sind, gewähren würde. Im Bereich der Teilhabediskussion im Erwachsenenalter wird z.B. die Frage der Teilhabe verwitweter muslimischer Frauen ohne deutsche Sprachkenntnisse als ein erhebliches Problem gesehen, obwohl hier in der Regel natürlich keine medizinische Ursache zugrunde liegt. Aus einer kinderrechtlichen Perspektive könnte eine solche inklusive Lösung, die generell einen Anspruch auf Teilhabeförderung für alle Kinder, ob mit oder ohne Behinderung, formuliert, sehr zu begrüßen sein.

Gleichzeitig ist aus medizinischer Sicht eine Bestandswahrung in Bezug auf die Errungenschaften in der Förderung von Kindern und Jugendlichen mit unterschiedlichen Behinderungsformen unbedingt einzufordern. Eine alleinige Gesamtzuständigkeit der Jugendhilfe, welche keine ärztliche Feststellung und ärztliche Mitwirkung bei der individuellen Hilfeplanung für die von seelischen und körperlichen Leiden betroffenen Kinder vorsieht, wäre qualitativ ein deutlicher Rückschritt. Die bewährte Zweigliedrigkeit in der Feststellung zwingt zur interdisziplinären Kooperation in Hilfeplanung und Versorgung und dies zum Wohle der betroffenen Kinder.

Derzeit hat sich durch die in allen Bundesländern unterschiedlichen Entwicklungen im Bereich der schulischen Inklusion eine neue Hilfelandschaft mit Schulbegleitern und Inklusionshelfern entwickelt. Der medizinische Bereich und die Jugendhilfe sind derzeit eher Ausfallsbürgen als aktive Gestalter dieses Prozesses. In größeren Anteilen gelingt Inklusion derzeit vor allem im Frühbereich und, wenn überhaupt noch, dann in der Grundschule. Im Bereich der weiterführenden schulischen Angebote ist nach wie vor Separation oder gar Exklusion derzeit eher die Regel. Im Bereich der von seelischer Behinderung bedrohten Kinder und Jugendlichen haben vor allem Kinder und Jugendliche mit Autismussprektrumsstörungen von den neuen Möglichkeiten und der Debatte um schulische Inklusion und Assistenz profitiert. Für diese Gruppe haben sich teilweise erhebliche Verbesserungen im Sinne einer inklusiveren Beschulung ergeben.

Literatur

Fegert, J.M.: Expertise 10. Jugendbericht. Die Bedeutung der Eingliederungshilfe für die Integration seelisch behinderter Kinder unter besonderer Berücksichtigung der Kindperspektive. In: Fegert, J.M./Frühauf, T. (Hrsg.): Integration von Kindern mit Behinderungen. München + Opladen: Verlag DJI + Leske u. Budrich 1999

Wiesner, R. (Hrsg.): SGB VIII - Kinder- und Jugendhilfe. Kommentar, München: Verlag C. H. Beck, 5. Aufl. 2015

Hinweis

Veröffentlicht am 09.12.2015