Von der integrativen zur inklusiven Kita

Ingeborg Becker-Textor

Die Begriffe "Integration" und "Inklusion" werden bis heute ungenau oder mit gleicher Bedeutung genutzt. Jedoch liegen Welten dazwischen und damit große Unterschiede hinsichtlich des Bildes vom Kind, der Konzeption einer Kita, des Denkens und Handelns der Fachkräfte, der konkreten pädagogischen Arbeit mit den Kindern sowie der notwendigen Rahmenbedingungen. Die Ursache für dieses "Missverständnis" liegt nicht zuletzt darin, dass mit Verabschiedung der UN-Behindertenrechtskonvention fälschlicherweise der Begriff "inclusion" mit "Integration" übersetzt und damit nur einer "Teilbedeutung" zugeführt wurde. Daraus resultiert die Gefahr, dass Inklusion zum Billigmodell der Integration von Kindern mit Behinderung wird.

Zur Entstehung integrativer Kitas

In den 1960er Jahren entstanden die ersten Sonderschulgesetze in den westdeutschen Ländern, und man schenkte den lange Zeit als "bildungsunfähig" eingestuften Kindern besondere Beachtung. Im Jahr 1964 wurde die "Aktion Sorgenkind" gegründet, und 1966 wurde in Mainz der erste Lehrstuhl für Geistigbehindertenpädagogik errichtet.

In den 1970er Jahren entstanden immer mehr Sondereinrichtungen und -schulen, insbesondere für geistigbehinderte Kinder. 1974 wurde das Schwerbeschädigtengesetz durch ein Schwerbehindertengesetz abgelöst. Geistigbehinderte Menschen blieben aber weitestgehend gesellschaftlich isoliert.

In den 1980er Jahren erreichte Deutschland die Konzepte der "Normalisation" und der "Integration", die in Skandinavien schon längst umgesetzt wurden. Allerdings wurde der Begriff der Normalisation vielfach falsch verstanden, und führte z.B. bei vielen Eltern zu der Erwartung, dass ihr Kind beim Besuch einer Regeleinrichtung nicht mehr behindert wäre. Mit "Integration" waren jedoch all die Maßnahmen gemeint, die es einem Menschen mit Behinderung ermöglichen, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben und in der Alltagswelt zurechtzukommen.

Westdeutsche Kindergärten waren Vorreiter bei der Umsetzung der Integration im frühen Kindesalter. Dennoch entwickelte sich alles sehr zäh. Sondereinrichtungen bangten um ihre Kinder; Regelkindergärten waren nicht auf die neue Aufgabe vorbereitet, und es fehlte den Fachkräften zu häufig an heilpädagogischem und therapeutischem Know-how. Die ersten Integrationskindergärten erhielten sehr gute Rahmenbedingungen: Zumeist gab es nur 15 Kindern pro Gruppe, davon 5 Kinder mit Behinderung. Ferner wurde eine heilpädagogische oder heilerziehungspflegerische Fachkraft zusätzlich zum Gruppenpersonal eingestellt. Darüber hinaus wurden die Kooperation mit Jugendhilfe, Frühförderstellen und heilpädagogischen Diensten intensiviert. Eine Mischfinanzierung aus Kita-Förderung, Eingliederungshilfe (Sozialhilfe) und Krankenkasse sicherte das Angebot.

Seit 1994 ist im Artikel 3 des Grundgesetzes festgelegt: "Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden". Diese Verfassungsänderung trug dazu bei, dass deutschlandweit immer mehr Integrationsgruppen in Regelkindergärten entstanden. Zusätzlich entwickelte sich die Einzelintegration.

Mit dem immer größer werdenden Bedarf an Kita-Plätzen für behinderte Kinder wurden die ehemals sehr guten Rahmenbedingungen "verwässert". So wurde die Integration zunehmend von Eltern in Frage gestellt: Eltern behinderter Kinder befürchteten, dass diese nicht mehr die adäquate Förderung erhalten würden; andere Eltern glaubten, ihr Kind könnte durch die vermehrte Fürsorge für die behinderten Kinder nicht ausreichend auf die Schule vorbereitet werden.

Inklusion - die UN-Behindertenrechtskonvention

Laut der UN-Behindertenrechtskonvention meint Inklusion den Zugang zu allen gesellschaftlichen Systemen. Inklusion ist somit das Gegenteil zu Ausgrenzung. Inklusion ist ein Menschenrecht.

Der UN-Konvention von 2009 gingen bereits ähnliche Vereinbarungen voraus. So beschreibt die Salamanca-Erklärung, an der 92 Regierungen und 25 internationale Organisationen mitwirkten, bereits 1994 die Notwendigkeit grundlegender politischer Änderungen, um Integration im weitesten Sinn zu fördern: "Das Leitprinzip, das diesem Rahmen zugrunde liegt, besagt, dass Schulen alle Kinder, unabhängig von ihren physischen, intellektuellen, sozialen, emotionalen, sprachlichen oder anderen Fähigkeiten aufnehmen sollen. Das soll behinderte und begabte Kinder einschließen, Straßen- ebenso wie arbeitende Kinder, Kinder von entlegenen oder nomadischen Völkern, von sprachlichen, kulturellen oder ethnischen Minoritäten sowie Kinder von anders benachteiligten Randgruppen oder -gebieten. Diese Bestimmungen schaffen eine Reihe von Herausforderungen an Schulsysteme. Im Zusammenhang mit diesem Aktionsrahmen bezieht sich der Begriff 'besondere pädagogische Bedürfnisse' auf all jene Kinder und Jugendliche, deren Bedürfnisse von Behinderungen oder Lernschwierigkeiten herrühren... Es besteht wachsende Übereinstimmung darüber, dass Kinder und Jugendliche mit besonderen pädagogischen Bedürfnissen in jene Unterrichtsabläufe integriert werden sollen, die für den Großteil aller Kinder eingerichtet werden. Das hat zum Konzept integrativer Schulen geführt. Die Herausforderung an integrative Schulen ist es, eine kindzentrierte Pädagogik zu entwickeln, die in der Lage ist, alle Kinder, auch jene, die schwere Benachteiligungen und Behinderungen haben, erfolgreich zu unterrichten. Der Wert solcher Schulen liegt nicht nur darin, dass sie alle Schüler und Schülerinnen mit qualitätsvoller Bildung versorgen können; ihre Einrichtung ist ein wesentlicher Schritt dahin, dass diskriminierende Haltungen verändert und Gemeinschaften geschaffen werden, die alle willkommen heißen, und dass eine integrative Gesellschaft entwickelt wird. Eine Änderung der sozialen Perspektive ist zwingend notwendig" (S. 4). Schon damals wurde also unter Integration das verstanden, was wir heute mit Inklusion beschreiben.

Inklusion kann nur bei einem gesellschaftlichen Umdenken funktionieren. Inklusion ist ein umfassender und globaler Gedanke, dessen Umsetzung vor Ort passieren muss. Natürlich bedarf es dazu adäquater Rahmenbedingungen, aber auch einer neuen Offenheit, des Respekts, der Toleranz, Akzeptanz und Solidarität. Demokratisches Bewusstsein, die Wertschätzung von Unterschieden, die Achtung von Individualität, Verantwortung für andere, gestaltendes Handeln, die Überwindung von sichtbaren und unsichtbaren Mauern usw. beflügeln inklusive Prozesse. Diese bleiben immer im Fluss. Wer glaubt, dass Inklusion je ganz abgeschlossen sein kann, der irrt. Inklusion ist eine Form des gesellschaftlichen Umgangs mit Vielfalt und Verschiedenheit. Sie impliziert die Gleichwertigkeit eines jeden Einzelnen und erkennt jede individuelle Persönlichkeit und jedes individuelle Entwicklungspotential als wertvoll an. Sie schließt alle Menschen ein, ungeachtet ihrer Hautfarbe, Sprache, Religion, Kultur, Begabung, Beeinträchtigung usw.

Dass Inklusion, ebenso wie Integration, in Kitas nicht zum Nulltarif umgesetzt werden kann, wurde und wird insbesondere von den verschiedenen Kostenträgern nicht wahrgenommen bzw. akzeptiert. Wenn die Inklusion in Kitas an Grenzen stößt, dann dürfen wir nicht pädagogisches Versagen der Fachkräfte dafür verantwortlich machen. Es müssen auch die Rahmenbedingungen hinterfragt werden, ebenso wie die Formen der fachlichen Begleitung und Supervision der Mitarbeiter/innen in den Kitas.

Inklusion wird derzeit als eine "billige Lösung" für viele Probleme gesehen; aber das wird so nicht funktionieren. Es ist zu erwarten, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis Inklusion als ein gescheitertes Projekt dargestellt werden wird - ohne dass die Rahmenbedingungen dafür verantwortlich gemacht werden. Was wird dann geschehen? Werden dann wieder alle behinderten, sprachgestörten, entwicklungsverzögerten, verhaltensauffälligen oder anderweitig der "Norm" nicht entsprechenden Kinder wieder in Sondereinrichtungen und Förderschulen "ausgesondert" werden?

Wie kann Inklusion in der Kita gelingen?

 

Das Gelingen ist abhängig von einer Vielfalt von Faktoren:

 

  1. Veränderung in den Köpfen aller Beteiligten. Alle müssen Inklusion wollen: der Träger, die pädagogischen und sonstigen Fachkräfte, die Fachberater/innen, die Mitarbeiter/innen kooperierender medizinischer und psychosozialer Dienste. Sie müssen sich der Konsequenzen einer Umsetzung von Inklusion bewusst werden und notwendige Veränderungen wollen. Erst dann kann mit den Vorbereitungen begonnen werden. Eingeplant werden müssen auch Angebote wie Beratung und Supervision, die beim Überwinden von "Stolperstellen" helfen und bei Überforderung oder Frustration frühzeitig eingreifen.
  2. Multiprofessionelle Teams und die Zusammenarbeit mit externen Diensten müssen zur Regel werden. Damit werden hohe Erwartungen formuliert. In den Kitas müssen bei jedem einzelnen Kind der individuelle Eingliederungsplan und der individuelle Bildungsplan zur Richtschnur des pädagogischen Handelns werden. Die Trias Bildung - Erziehung - Betreuung muss stets ausbalanciert sein, wenn jedem Kind entsprochen werden soll. In vielen Situationen ist das Know-how von verschiedensten Professionen gefragt. Dies bedeutet nicht nur, dass Träger die Kita-Teams multiprofessionell ausrichten müssen, sondern vor allem auch eine verstärkte Kooperation und Vernetzung mit anderen Diensten.
  3. Rolle, Sichtweise und Beobachtungsmethoden der pädagogischen Mitarbeiter/innen müssen sich verändern. Die Fachkräfte in den Kitas werden verstärkt Teil des Inklusionsprozesses. Sie sind nicht die "Macher", sondern die Begleiter der Kinder. Wir alle sind anders. Wir alle sind verschieden. Dies bedeutet, dass die pädagogischen Mitarbeiter/innen ihr gesamtes Denken und Handeln überprüfen und ihre Rolle neu ausgestalten müssen. Sie müssen sich auch auf Veränderungen, die eigene Person betreffend, einlassen. Eine Umorientierung auf neue, bisher für sie unbekannte Bedarfe wird nötig. Partizipation verlangt nach Neustrukturierung; Netzwerke müssen Priorität bekommen; die Kooperation mit Eltern ist mit neuen Herausforderungen verbunden (z.B. wie Eltern das Lernen ihrer Kinder unterstützen könnten); die Öffentlichkeitsarbeit der Kita bekommt ein anderes Gesicht. Und nicht zuletzt entsteht ein wesentlich höherer Bedarf an Austausch und Abstimmung im Team, mit Eltern, mit externen Fachleuten und mit Verwaltungskräften.
  4. Rezepte haben ausgedient. Überholte und erfolglose Förderprogramme haben ausgedient. Gefordert sind eine genaue Beobachtung eines jeden einzelnen Kindes, Ressourcenorientierung und Prozessbegleitung. Der allen vertraute Satz "Der Weg ist das Ziel" gewinnt neue Bedeutung. Trotz Andersein haben wir individuelle und gemeinsame Stärken und Schwächen. Nur Letztere zu verringern, ist bei Inklusion der falsche Ansatz. Vielmehr müssen auch die individuellen Begabungen und Fähigkeiten erkannt und gefördert werden.
  5. Die Aus- und Fortbildung muss sich verändern. In der Ausbildung muss die Förderung jedes einzelnen Kindes, gleich welche Bedürfnisse es hat, in den Mittelpunkt rücken. Dies fordert veränderte Inhalte: Es darf nicht nur theoretisches Wissen vermittelt werden, sondern es muss aktives Handeln in den vielfältigsten Situationen angeregt werden. Das kann nur gelingen, wenn die Lehrenden das Feld kennen und die notwendigen Handlungsstrategien richtig einzuschätzen wissen. Um diesbezügliche Defizite zu verringern, wären regelmäßige mehrwöchige Hospitationen der Dozent/innen in Kitas unverzichtbar. Zudem müssten Lehrpläne flexibler gestaltet werden. Was nützt es, wenn das Thema "traumatisierte Kinder aus Kriegsgebieten" in fünf Jahren in einem neuen Lehrplan auftaucht? Jetzt wollen die (zukünftigen) Fachkräfte wissen, wie sie solche Kinder unterstützen und fördern können. Auch die Fortbildung muss sich entsprechend ändern.

Inklusion bedeutet Wertschätzung der Diversität. Die Verschiedenheit aller Menschen bedeutet, dass es keine "allgemeingültigen" Methoden der Betreuung, Erziehung und Bildung von Kindern gibt - jedes einzelne Kind muss in seiner ganzen Individualität gesehen und bei deren Entfaltung unterstützt werden.

Wie wäre es, wenn man die Mittel und Rahmenbedingungen "exkludierender" Einrichtungen und Maßnahmen für die Inklusion nutzen würde? Dann wären genug Mittel vorhanden...

 

Schlusswort

"Was im Vorhinein nicht ausgegrenzt wird, muss hinterher auch nicht eingegliedert werden!" (Richard von Weizsäcker in www.definitiv-inklusiv.org). Wie richtig ist dieser Satz - aber leider ist man in Deutschland den Weg der Ausgliederung gegangen: Man hat sich jedem Anderssein gesondert zugewandt und entsprechende Einrichtungen geschaffen. So ist es kein Wunder, dass man sich jetzt schwer mit der Inklusion tut.

Literatur

Arbeitskreis Integrative Kindertageseinrichtungen der LAG Gemeinsam Leben - Gemeinsam Lernen e.V. Bayern: Integration behinderter Kinder: pädagogische Grundlagen. http://www.kindergartenpaedagogik.de/527.html (06.10.2015)

Booth, T./Ainscow, M./Kingston, D.: Index für Inklusion (Tageseinrichtungen für Kinder). Lernen, Partizipation und Spiel in der inklusiven Kindertageseinrichtung entwickeln. http://www.eenet.org.uk/resources/docs/Index%20EY%20German2.pdf (06.10.2015)

Die Salamanca Erklärung und der Aktionsrahmen zur Pädagogik für besondere Bedürfnisse. Angenommen von der Weltkonferenz "Pädagogik für besondere Bedürfnisse: Zugang und Qualität". http://www.unesco.de/fileadmin/medien/Dokumente/Bibliothek/salamanca-erklaerung.pdf (06.10.2015)

Die UN-Behindertenrechtskonvention. Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. https://www.behindertenbeauftragter.de/SharedDocs/Publikationen/DE/Broschuere_ UNKonvention_KK.pdf?__blob=publicationFile (06.10.2015)

Deutsche UNESCO-Kommission e.V.: Inklusive Bildung. http://www.unesco.de/bildung/inklusive-bildung.html (06.10.2015)

Hinz, A.: Von der Integration zur Inklusion - terminologisches Spiel oder konzeptionelle Weiterentwicklung? http://www.jugendsozialarbeit.de/media/raw/hinz_inklusion.pdf (06.10.2015)

Wagner, P. (Hrsg.): Handbuch Inklusion. Grundlagen vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung. Freiburg, Basel, Wien: Herder 2013

Hinweis

 

Veröffentlicht am 17.03.2015