Beratung in allgemeinen Fragen der Erziehung und Entwicklung junger Menschen

Martin R. Textor

Letztlich ist kein Arbeitsfeld im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe denkbar, in dem die Fachkraft nicht auch beraterisch tätig wird. § 16 Abs. 2 Nr. 2 SGB VIII bildet hierfür die Rechtsgrundlage: "(2) Leistungen zur Förderung der Erziehung in der Familie sind insbesondere ... 2. Angebote der Beratung in allgemeinen Fragen der Erziehung und Entwicklung junger Menschen, ...". "Sie sollen dazu beitragen, dass Mütter, Väter und andere Erziehungsberechtigte ihre Erziehungsverantwortung besser wahrnehmen können" (§ 16 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII).

Im Gegensatz zu Beratungsarten, die von auf die jeweilige Form spezialisierten Fachkräften durchgeführt wird (z.B. Erziehungsberatung nach § 28 SGB VIII, Drogenberatung, Eheberatung), ist die Beratung in allgemeinen Fragen der Erziehung und Entwicklung junger Menschen eine Aufgabe, für die alle Mitarbeiter/innen in der Kinder- und Jugendhilfe zuständig sind. Deshalb wird hier auch von "funktionaler Beratung" gesprochen: "Funktionale Beratung bedeutet, im Rahmen seiner jeweiligen Aufgaben und Zuständigkeiten im Kontext der Erfüllung der Gesamtaufgabe unter anderem auch zu beraten. Angewendet auf das Aufgabenfeld der Jugendhilfe wird damit den Fachkräften in allgemeinen und spezialisierten sozialen Diensten, in Tageseinrichtungen für Kinder, in Jugendfreizeitstätten und Einrichtungen der erzieherischen Hilfe zur Pflicht gemacht, bei Bedarf durch Beratungsgespräche Mütter, Väter und andere Erziehungsverantwortliche zu befähigen, ihre Erziehungsverantwortung besser wahrzunehmen (...)" (Greese 1992, S. 89).

Die funktionale Beratung kann sich entweder vorwiegend auf eine einzelne Person (z.B. ein Kind) oder auf die ganze Familie beziehen. Im letztgenannten Fall ist es wichtig, dass der Familientyp und die jeweilige Phase des Familienzyklus berücksichtigt werden. Aber auch junge Menschen sollen - zusammen mit ihren Erziehungsberechtigten oder alleine - in Fragen ihrer Entwicklung und Erziehung beraten werden.

"Funktionale Beratung erfolgt in eher kurzfristigen Gesprächen oder ist nur ein Teilaspekt der jeweiligen Interaktion mit Eltern, Jugendlichen oder Heranwachsenden. Sie ist somit wenig zeitaufwendig, umfasst also keineswegs Anamnese, Diagnose oder Therapie (zur Abgrenzung vgl. Textor 1987). Vielmehr wird auf Erziehungsfragen und -schwierigkeiten, die Gestaltung der Eltern-Kind-Beziehung, Entwicklungsaufgaben und -störungen, Verhaltensauffälligkeiten, Behinderungen, Schulprobleme, Fragen der Freizeitgestaltung, den Umgang mit Kindern nach Trennung und Scheidung sowie ähnliche Themen kurzzeitig eingegangen, die von der Fachkraft im Rahmen ihrer anderen (Haupt-) Aufgaben ermittelt oder den Klienten/innen - zumeist im Kontext einer längeren Beziehung zu der Fachkraft - angesprochen wurden. Die Beratung kann somit in Sprechstunden bzw. Einzelgesprächen, bei Hausbesuchen, im Rahmen der Elternarbeit von Kindertageseinrichtungen und Heimen, in so genannten Tür- und Angel-Gesprächen oder im Kontext der Gruppenarbeit mit Eltern, Jugendlichen und/oder Heranwachsenden bzw. mit besonderen Gruppierungen (z.B. Alleinerziehenden, Pflege- oder Adoptiveltern, Familien mit behinderten Kindern, Jugendgruppen) erfolgen" (Textor 1996a, S. 105 f.).

Die Beratung beschränkt sich in der Regel auf die Klärung der vorgebrachten Frage, des Problems oder der Auffälligkeit. Oft reicht es dann aus, wenn die Klienten/innen relevante Informationen und handlungsorientierte Ratschläge erhalten. Jedoch sollte darauf geachtet werden, ob Veränderungsimpulse im Alltag umgesetzt werden. In anderen Fällen müssen die Klienten/innen durch die verschiedenen Phasen des Problemlösungsprozesses hindurch begleitet werden:

  1. Problemdefinition: genaue Beschreibung des Problems; Klient/innen und Fachkraft müssen diese Definition akzeptieren.
  2. Suche nach den Ursachen des Problems: Bestimmung vorausgehender und nachfolgender Ereignisse und Verhaltensweisen, von Auslösern und Verstärkern; Suche nach problematischen Strukturen und Prozessen in Familie und Umfeld.
  3. Zielbestimmung: Festlegung realistischer Ziele für den Problemlösungsprozess.
  4. Suche nach allen denkbaren Lösungsmöglichkeiten: Brainstorming; anschließend Beurteilung der Vor- und Nachteile sowie möglicher Umsetzungsschwierigkeiten.
  5. Auswahl der voraussichtlich besten Alternative; danach Planung der Umsetzung sowie Ermittlung benötigter Ressourcen und möglicher Widerstände.
  6. Umsetzung der Alternative; dabei gegebenenfalls Unterstützung und Hilfestellung.
  7. Erfolgskontrolle: Überprüfung der Effektivität des Problemlösungsversuches.

Die Fachkraft beschränkt sich dann auf die Unterstützung und Beratung der Klient/innen beim Durchlaufen der genannten Stufen des Problemlösungsprozesses. Sie hilft beim Analysieren der Gesamtsituation und beim Strukturieren von Informationen, regt neue Sichtweisen an, gibt Tipps zum Umsetzen von Lösungsmöglichkeiten, motiviert zu konkreten Verhaltensänderungen, ermutigt bei Ängsten und Zweifel, führt bei Abschweifungen zum Problem zurück usw. Eventuell sind mehrere Besprechungen nötig, um Probleme bei der Umsetzung der Lösungsstrategie zu diskutieren, eine andere, erfolgversprechendere Alternative auszusuchen oder neu aufgetretene Schwierigkeiten zu klären.

In vielen Fällen stellt sich auch während der funktionalen Beratung heraus, dass diese nicht ausreicht, um den Klienten/innen die Bewältigung der jeweiligen Problemlage zu ermöglichen. Dann müssen relevante Hilfsangebote vermittelt werden. Dies gilt natürlich auch für den Fall, dass die Fachkräfte nicht über die benötigten Kenntnisse und Kompetenzen verfügen.

Für die funktionale Beratung gelten ähnliche Grundsätze und Kriterien wie für die institutionelle Beratung (z.B. Erziehungsberatung, § 28 SGB VIII). So sollte eine Vertrauensbeziehung zwischen Klienten/innen und Berater/innen bestehen. Die Fachkräfte akzeptieren in der Regel die Selbständigkeit, Unabhängigkeit, Eigenverantwortung und Individualität der Klienten/innen, halten sich eher zurück und manipulieren nicht. Besonders häufige Verhaltensweisen von ihnen sind Nachfragen, Klären, Bestätigen, Informieren, Interpretieren, Anleiten, Empfehlen, Ermutigen, Verstärken u. Ä. Von großer Bedeutung ist ferner, dass die Grundsätze der Gesprächsführung befolgt werden. Besonders wichtig sind hier folgende Grundhaltungen:

  1. Gesprächsbereitschaft und Geduld: Für ein gutes Gespräch müssen sich beide Seiten Zeit nehmen. Den Klient/innen sollte der Eindruck vermittelt werden, dass es im Augenblick kein wichtigeres als ihr Anliegen gibt.
  2. Vertrauen: Die Klient/innen müssen die Gewissheit haben, dass das Gespräch vertraulich ist und ihre Aussagen nicht anderen Menschen zugetragen werden. Nur dann werden sie über sich selbst sprechen und offen diskutieren. Sollen Gesprächsinhalte Dritten zugänglich gemacht werden, muss dieses angesprochen und um Zustimmung gebeten werden (Datenschutz).
  3. Wertschätzung und Respekt: Die Klient/innen sollten den Eindruck gewinnen, dass sie als Person geschätzt und geachtet werden und dass ihnen positive Gefühle ("Wärme") entgegengebracht werden. Die Sichtweisen, Empfindungen und Werte der Klient/innen werden akzeptiert und nicht an den eigenen Vorstellungen und Normen gemessen. Nur einzelne Verhaltensweisen werden problematisiert.
  4. Einfühlsames Verstehen ("Empathie"): Die Fachkraft interessiert sich für die subjektive Welt der Klient/innen und zeigt Verständnis. Sie versucht, sich in die Person ihrer Gesprächspartner hineinzuversetzen.
  5. Offenheit und Echtheit: Die Fachkraft reagieren als Person, öffnet sich selbst, bringt ihre Gedanken und Gefühle in klaren Aussagen zum Ausdruck. Verbale Botschaft, Gesichtsausdruck und Körperhaltung stimmen überein ("Kongruenz").
  6. Achtung vor der Eigenständigkeit und Selbstverantwortung der Klient/innen: Verhaltensänderungen können wohl angeregt werden, aber nur die Klient/innen können sich selbst ändern. So wird Vertrauen in ihre Fähigkeit zur Selbsthilfe gezeigt, anstatt dass ihr Problem zum eigenen gemacht wird und die Fachkraft schließlich als "hilflose Helferin" an ihm scheitert. Zugleich wird Verantwortung für das eigene Handeln und Erleben, die eigenen Bedürfnisse, Einstellungen und Emotionen übernommen.

Diesen Grundhaltungen entsprechen bestimmte Gesprächstechniken. Dazu gehört beispielsweise das "aktive Zuhören". Hier nimmt die Fachkraft nicht nur auf, was gesagt wurde, sondern bemüht sich auch zu verstehen, was gemeint wurde. So akzeptiert sie zunächst einmal die Gedanken und Gefühle der Klient/innen und stellt zugleich ihre eigenen Reaktionen, ihre Meinungen, Wertungen und Emotionen zurück. Dann versucht sie, dass Gesagte mit eigenen Worten wiederzugeben und dabei vor allem auf die emotionalen Inhalte einzugehen (Rückmeldung/Feedback). Bei einem solchen Verhalten erfahren die Klient/innen, wie ihre Aussagen bei der Fachkraft angekommen sind und fühlen sich in der Regel verstanden. Missverständnisse können sofort ausgeräumt und notwendige Zusatzinformationen gegeben werden. Die Klient/innen müssen sich nicht verteidigen, sondern können sich leichter mit ihren Problemen auseinandersetzen und nach Lösungen suchen. Sie werden kompromissbereit und zugänglicher für Vorschläge, Empfehlungen und Ratschläge.

"Auch bei einer funktionalen Beratung ist von Bedeutung, dass die Fachkräfte für diese Tätigkeit qualifiziert sind. Sie sollten z.B. über psychologische und andere relevante Kenntnisse sowie über personbezogene Kompetenzen wie allgemeine Beziehungsfähigkeiten, grundlegende Beratungsfertigkeiten und Menschenkenntnis verfügen. Insbesondere in der öffentlichen Jugendhilfe sollte darauf geachtet werden, dass die beratende Person keine Kontroll- oder Entscheidungsbefugnisse gegenüber dem jeweiligen Klienten hat. Auch Interessenkollisionen müssen vermieden werden" (Textor 1996a, S. 106).

"Eltern, anderen Erziehungsberechtigten und jungen Menschen fällt es in der Regel schwer, eigene Unzulänglichkeiten, Erziehungsschwierigkeiten und ähnliche Probleme unbekannten Dritten gegenüber einzugestehen. So warten sie oft, bis die Probleme verfestigt, viel größer geworden und kaum noch erträglich sind, bevor sie z.B. eine Beratungsstelle oder das Jugendamt aufsuchen. Viel leichter fällt es ihnen aber, sich an sozialpädagogische Fachkräfte zu wenden, die sie bereits seit längerem kennen und wo somit schon eine Vertrauensbasis gegeben ist. Im Jugendhilfebereich dürfte dies vor allem auf Eltern zutreffen, deren Kinder in Tageseinrichtungen betreut werden (und auf junge Menschen, die seit langem Angebote der Jugendarbeit nutzen). So überrascht nicht, dass nach Umfragen Eltern in Erzieher/innen Ansprechpartner bei Erziehungs- und Familienproblemen sehen - und dass sie von diesen auch, überwiegend zu ihrer Zufriedenheit, beraten werden (vgl. Textor 1992, 1999). Dies geschieht zu vereinbarten Terminen, in Elterngruppen oder Tür- und Angel-Gesprächen. Auch als Vermittlungsinstanz kommt Kindertageseinrichtungen eine große Bedeutung zu. Vielerorts werden Eltern nicht nur direkt im Gespräch auf relevante Beratungsstellen und psychosoziale Dienste verwiesen, sondern auch indirekt durch das Auslegen von Beratungsführern und anderen Materialien oder durch einen entsprechenden Aushang am 'schwarzen Brett'.

Erzieher/innen beklagen allerdings immer wieder die fehlende Ausbildung im Bereich der Gesprächsführung und Elternberatung. Auch gibt es nur wenig Fortbildungsangebote, die einen Erwerb von Beratungskompetenzen ermöglichen. Schließlich sind sie in der Regel nur über einen kleinen Teil der Jugendhilfemaßnahmen und -einrichtungen informiert. So ist es dringend angezeigt, dass öffentliche und freie Jugendhilfe die Bedeutung der Kindertagesstätten im Bereich der funktionalen Beratung und Vermittlung von Hilfsangeboten würdigen und den Erwerb entsprechender Kenntnisse und Fertigkeiten fördern. Ferner sollte die Vernetzung mit anderen Jugendhilfeeinrichtungen vorangetrieben werden (Textor 2000). Erste Ansätze zeigen, dass alle Seiten - vor allem aber Eltern und Kinder - davon profitieren. Mancherorts resultieren z.B. aus der Zusammenarbeit von Kindergarten und Erziehungsberatungsstelle Angebote wie Einzel-, Gruppen- und Fallsupervision für Erzieher/innen bezüglich des Umgangs mit "schwierigen" Kindern und Eltern, Sprechstunden von Psychologen/innen für Eltern im Kindergarten oder Gesprächskreise bzw. Elternabende mit der Erziehungsberaterin (Textor 1996b). Denkbar ist natürlich auch eine ähnliche Vernetzung zwischen Jugendhilfe und Schule, zumal Letztere laut vielen Ländergesetzen ebenfalls eine Beratungspflicht gegenüber Eltern hat" (Textor 1996a, S. 107 f.).

Literatur

Greese, D.: Beratung in allgemeinen Fragen der Erziehung und Entwicklung. In: Textor, M.R. (Hg.): Praxis der Kinder- und Jugendhilfe. Handbuch für die sozialpädagogische Anwendung des KJHG. Weinheim: Beltz 1992, S. 88-91

Textor, M.R.: Beratung, Erziehung, Psychotherapie. Eine Begriffsbestimmung. Psychologie in Erziehung und Unterricht 1987, 34, S. 1-13

Textor, M.R.: Kind, Familie, Kindergarten. München: Don Bosco 1992

Textor, M.R.: Allgemeine Förderung der Erziehung in der Familie. § 16 SGB VIII. Stuttgart: Boorberg 1996a

Textor, M.R. (Hg.): Problemkinder? Auffällige Kinder in Kindergarten und Hort. Weinheim: Beltz 1996b

Textor, M.R. (Hg.): Elternarbeit mit neuen Akzenten. Reflexion und Praxis. Freiburg: Herder, 5. Aufl. 1999

Textor, M.R.: Vernetzung. Kinderzeit 2000, Heft 3, S. 6-8

Hinweis

Veröffentlicht am 09.10.2001, überprüft und korrigiert im März 2015