Heimerziehung, sonstige betreute Wohnform

Richard Günder

Kinder und Jugendliche leben heute in Heimen oder in sonstigen betreuten Wohnformen (Außenwohngruppen, Wohngruppen, Betreutes Wohnen), wenn sie aus sehr unterschiedlichen Gründen in ihrer Herkunftsfamilie vorübergehend oder auf längere Sicht nicht leben können, wollen oder dürfen. Es handelt sich in der Regel um junge Menschen, die aus schwierigen bzw. aus schwierigsten Verhältnissen stammen. Sie kommen überwiegend aus unterprivilegierten Bevölkerungsschichten - im Jahr 2012 waren 58 Prozent der Herkunftsfamilien auf staatliche Transferleistungen angewiesen-, der Ausbildungsgrad und der berufliche Status ihrer Eltern waren gering. Alkoholprobleme spielten in vielen der Familien eine Rolle.

Im Jahr 2012 hat für insgesamt 36.048 junge Menschen die Hilfe zur Erziehung in einem Heim oder in einer sonstigen betreuten Wohnform (wieder) neu begonnen, dabei handelte es sich in 47 Prozent um Mädchen. Der Anteil der Kinder und Jugendlichen mit ausländischen Wurzeln betrug 31 Prozent. In 16 Prozent der Fälle lag ein teilweiser bzw. vollständiger Entzug der elterlichen Sorge vor. Bemerkenswert erscheint der relativ hohe Stiefelternanteil in den Herkunftsfamilien beziehungsweise der Elternteile mit einem neuen Partner und dass es sich in fast der Hälfte der Fälle um Alleinerziehende handelte (Statistisches Bundesamt 2014).

Lebensweltorientierung als Leitnorm des SGB VIII impliziert für die Heimerziehung eine ortsnahe oder zumindest regionale Unterbringung sowie die Unterstützung von Kontakten zum früheren sozialen Umfeld. Das Heim als positiver Lebensort soll frühere oftmals traumatische Erfahrungen verarbeiten helfen, für günstige Entwicklungsbedingungen sorgen, den einzelnen jungen Menschen als Person annehmen und wertschätzen, eine vorübergehende oder auf einen längeren Zeitraum angelegte Beheimatung fördern und die Entwicklung neuer Lebensperspektiven unterstützen.

Heimerziehung hat sich verändert

Die in den 1970er und 1980er Jahren initiierten und realisierten Reformen der Heimerziehung haben innerhalb des Praxisfeldes zu erheblichen Veränderungen und vor allem zu Differenzierungen geführt. Größere Heime verloren infolge der Dezentralisierung mehr und mehr ihren Anstaltscharakter. Im Zuge der Reformen kam es auch zu Auslagerungen von Heimgruppen in andere Häuser und Stadtteile, zur Gründung von Außenwohngruppen und selbstständigen Wohngemeinschaften, etwas später kamen Vorläufer des Betreuten Wohnens auf. Heute reicht das differenzierte und spezialisierte Feld der Stationären Erziehungshilfe bis hin zu Erziehungsstellen.

Der Trend zu kleinen überschaubaren Institutionen innerhalb der Heimerziehung hält an. Am 31.12.2012 lebten 66.711 junge Menschen in Stationärer Erziehungshilfe, 35 Prozent davon in eingruppigen Einrichtungen, 3,3 Prozent wurden in einer eigenen Wohnung betreut (Statistisches Bundesamt 2014). Durchschnittlich vier bis fünf pädagogische Fachkräfte sind für etwa acht Kinder und Jugendliche zuständig. Dieses pädagogisch notwendige Verhältnis führte dazu, dass die Heimerziehung neben der Intensiven Sozialpädagogischen Einzelbetreuung die mit Abstand kostenintensivste Hilfe zur Erziehung darstellt. Wegen der desolaten Haushaltsituation der öffentlichen Kostenträger gerät Heimerziehung immer wieder unter Legimitationsdruck und muss permanent ihren professionellen Standard verteidigen.

Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer der im Laufe des Jahres 2012 aus der Heimerziehung Entlassenen betrug nur noch 20 Monate (Statistisches Bundesamt 2014). Unterschiedliche Evaluationsstudien zeigen jedoch auf, dass Hilfen zur Erziehung im Durchschnitt erst ab dem zweiten Jahr der Hilfe nachweisbare Erfolge aufweisen, die im dritten Jahr noch weiter ansteigen. Dem würde die oftmals vorgefundene Praxis widersprechen, aus Kostengründen von Beginn an festzulegen, Erziehungshilfen schon nach kürzerer Zeit zu beenden (Macsenaere/ Herrmann 2004, S. 39).

Indikationen für die Heimunterbringung

Hauptgrund für die Hilfe der jungen Menschen, die im Jahre 2012 in einer Institution der Stationären Erziehungshilfe aufgenommen wurden, war:

 

Indikationen für die Heimunterbringung

Einschränkung der Erziehungskompetenz

17%

Gefährdung des Kindeswohls

15%

Auffälligkeiten im sozialen Verhalten

13%

Unversorgtheit des jungen Menschen

13%

Unzureichende Förderung

11%

Belastung durch familiäre Konflikte

8%

Belastung durch Probleme der Eltern

7%

Entwicklungsauffälligkeiten

7%

Schulische Probleme

4%

Quelle: Statistisches Bundesamt 2014

 

Methoden in der Heimerziehung

Die "planvolle systematische Gestaltung von Hilfe- bzw. Erziehungsprozessen" (Mühlum 2011, S. 775) wird als grundlegende Voraussetzung methodischen und professionellen Vorgehens verstanden.

Methodische Vorgehensweisen innerhalb der Heimerziehung bauen auf den Ressourcen der Betroffenen auf. Sie müssen Selbstdeutungsprozesse und eigene Lösungswege der jungen Menschen zulassen, fördern und berücksichtigen. Je nach der Ausrichtung der Institution werden z. B. die folgenden pädagogischen/ therapeutischen Methoden praktiziert: Verhaltenspädagogik, Verhaltenstherapie, Kinderspieltherapie, Traumapädagogik, Motopädagogik, heilpädagogisches Reiten, Erlebnispädagogik oder familientherapeutische Verfahren. Bisweilen wird jedoch in der Stationären Erziehungshilfe ein professioneller Standard nicht erreicht, weil in einzelnen Institutionen systematisch angelegte Vorgehensweisen und Methodenkompetenzen nur unzureichend vorhanden sind.

Eltern- und Familienarbeit

Die Arbeit mit Familien von Heimkindern wird durch das SGB VIII verbindlich vorgeschrieben und kann somit nicht von Vorlieben oder anderen Zufälligkeiten abhängig sein. Sie wird primär begründet mit der anzustrebenden Rückkehr des Kindes oder Jugendlichen in die Herkunftsfamilie. Doch auch, wenn eine Rückkehr in die Herkunftsfamilie nicht realisiert werden kann, soll mit den beteiligten Eltern beziehungsweise mit weiteren Angehörigen gemeinsam gearbeitet werden, vor allem, wenn es um wesentliche Entscheidungen und um Lebensperspektiven des jungen Menschen geht. Die vom SGB VIII als Leitnorm vorgegebene Lebensweltorientierung unterstreicht die Notwendigkeit einer permanenten und qualitätsorientierten Eltern- und Familienarbeit innerhalb der Stationären Erziehungshilfe. Jedoch beschränkt sich diese in der Praxis in nicht wenigen Fällen auf eine bloße "Kontaktpflege" und entspricht dann nicht den Anforderungen einer zielgerichteten und methodisch abgesicherten Vorgehensweise.

Eltern- und Familienarbeit setzt bei den Mitarbeiter/innen ein hohes Maß an Professionalität und Arbeitszeitaufwand voraus. Wie sehr sich dieser Einsatz lohnen kann, zeigt eine Studie in der "ein gesicherter signifikanter Zusammenhang zwischen Elternarbeit und Hilfeverlauf" festgestellt wurde. "Das heißt, bei einer regelmäßigen Elternarbeit kommt es vermehrt zu regulären Entlassungen und bei einer seltenen Elternarbeit vermehrt zu vorzeitigen Abbrüchen" (Schmidt-Neumeyer u.a. 2002, S. 297). Wenn regelmäßig mit den Eltern gearbeitet wurde, dann waren 66,7 Prozent der Entlassungen regulär. In den Fällen eines vorzeitigen Abbruchs der Stationären Erziehungshilfe ging dies in 77,8 Prozent der Fälle mit seltener Elternarbeit einher (S. 297).

Elternarbeit kann dazu beitragen, dass das Heimkind von seinem Herkunftsmilieu nicht entfremdet wird, wenn die pädagogischen und beratenden Handlungen sich an den Lebenswelten von Heimkindern und Eltern orientieren. Verschiedene Modelle (Günder 2011, S. 277ff.) der stationären Unterbringungen ganzer Familien und der intensiven Familienaktivierung zeigen neue Wege auf, wie eine längerfristige Stationäre Hilfe vermieden werden kann, wenn familiäre Ressourcen aufgedeckt und gefördert wurden.

Partizipation

Im Gegensatz zum alten JWG, in dem Jugendhilfemaßnahmen überwiegend als Eingriffsmaßnahmen galten, die mehr oder weniger "von oben" angeordnet wurden, geht das SGB VIII von Leistungen aus, welche in partnerschaftlicher Kooperation mit den Betroffenen zu klären, abzuwägen und abzustimmen sind. Für die Betroffenenbeteiligung im Rahmen der Heimerziehung sind beispielsweise die folgenden Aspekte wesentlich: Nach § 5 SGB VIII haben die Leistungsberechtigten, in der Regel also die Eltern, ein Wunsch und Wahlrecht hinsichtlich der Einrichtungen und Dienste verschiedener Träger und bezüglich der Gestaltung der Hilfe. Auf dieses Recht müssen die Betroffenen ausdrücklich hingewiesen werden. In § 8 wird geregelt, dass Kinder und Jugendliche an allen sie betreffenden Entscheidungen der öffentlichen Jugendhilfe zu beteiligen sind

Nach § 36 sind die Personensorgeberechtigten und das Kind oder der Jugendliche vor der Entscheidung über die Inanspruchnahme einer Hilfe zu beraten, wobei auf mögliche Folgen für die Entwicklung des Kindes oder Jugendlichen hinzuweisen ist.

Wenn Hilfe für einen voraussichtlich längeren Zeitraum zu leisten ist, soll in Zusammenarbeit mit den Personensorgeberechtigten und im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte (also im Team) über die im Einzelfall angezeigte Hilfe entschieden werden. Dies gilt insbesondere bei Erziehungshilfen, die außerhalb der eigenen Familie stattfinden, so vor allem auch bei der Heimerziehung.

Jugendhilfe kann im eigentlichen Sinne nur dann lebenswelt- und ressourcenorientiert sein, wenn die aktive Beteiligung - die Partizipation - der betroffenen jungen Menschen nicht nur gefordert, sondern innerhalb der Praxis systematisch und kontinuierlich realisiert wird. Die Praxis zeigt allerdings, dass trotz der eindeutigen gesetzlichen Regelungen eine erhebliche Diskrepanz zwischen Forderungen und der Beachtung sowie der Realisierung einer Partizipation besteht. Oftmals wird die Beteiligung von Kindern oder Jugendlichen am Hilfeplanungsprozess durch die "Machtasymmetrie" zugunsten der Fachkräfte (Schnurr 2011, S. 1073) behindert.

Zukünftige Herausforderungen

Seit dem Jahre 1991 lebten in Deutschland durchschnittlich 0,38 Prozent aller Menschen im Alter von 0 bis 20 Jahren in einer Einrichtung der Stationären Erziehungshilfe (Günder 2011, S. 40). Wenn wir von einer gleichbleibenden Quote ausgehen, werden sich wegen der demografischen Entwicklung am 31.12.2020 nur noch 51.700 und am 31.12.2040 nur noch 44.800 junge Menschen in Heimerziehung befinden. Im Verhältnis zum Ausgangsjahr 2012 entspricht dies einem Rückgang von 23 bzw. von 33 Prozent. Die Stationäre Erziehungshilfe wird sich also auf rapide sinkende Belegungszahlen einstellen müssen. Wenn wegen des zukünftigen Fachkräftemangels und anderer Faktoren verstärkt Menschen aus dem Ausland nach Deutschland einwandern, dann ist zu erwarten, dass der Anteil von Kindern und Jugendlichen mit ausländischen Wurzeln in der Heimerziehung ansteigt. Dies stellt eine besondere Herausforderung dar, die fachlich vorzubereiten ist.

Die insgesamt zurückgehenden Fallzahlen machen strukturelle Veränderungen unumgänglich. Im Zuge dieser Neuorientierung erscheinen weitere Spezialisierungs- und Professionalisierungsmaßnahmen notwendig und sinnvoll. Fachliche Herausforderungen stellen beispielsweise die Weiterentwicklung und Etablierung intensivpädagogischer Angebote für sehr schwierige junge Menschen dar sowie die aktivierende Arbeit mit den Familien von Heimkindern. Die Qualität der Stationären Erziehungshilfe und ihre Erfolge müssten zukünftig sehr viel stärker als bisher von der Gesellschaft wahrgenommen werden können, damit der ständige Legitimationsdruck zugunsten einer Akzeptanz und eines neuen Selbstverständnisses weicht. Dies erfordert eine offensive Öffentlichkeitsarbeit.

Literatur

Günder, R.: Praxis und Methoden der Heimerziehung. Entwicklungen, Veränderungen und Perspektiven der stationären Erziehungshilfe. Freiburg: Lambertus, 5. Aufl. 2015

Macsenaere, M./Herrmann, T.: Klientel, Ausgangslage und Wirkungen in den Hilfen zur Erziehung. Unsere Jugend 2004, 56 (1), S. 32-42

Mühlum, A.: Sozialarbeit/Sozialpädagogik. In: Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge (Hrsg.): Fachlexikon der sozialen Arbeit. Baden-Baden: Nomos, 7. Aufl. 2011, S. 773-777

Schmidt-Neumeyer, H. u.a.: Der Zusammenhang von Elternarbeit und Hilfeverlauf. Unsere Jugend 2002, 54 (7+8), S. 291-300

Schnurr, S.: Partizipation. In: Otto, H.- U./Thiersch, H. (Hrsg.): Handbuch Soziale Arbeit. München, Basel: Ernst Reinhardt, 4. Aufl. 2011, S. 1069-1078

Statistisches Bundesamt: Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe. Erzieherische Hilfe, Eingliederungshilfe für seelisch behinderte junge Menschen, Hilfe für junge Volljährige. Heimerziehung, sonstige betreute Wohnform 2012. Wiesbaden: Selbstverlag 2014

Quelle

Aus: Michael Macsenaere, Klaus Esser, Eckhart Knab, Stephan Hiller (Hrsg.): Handbuch der Hilfen zur Erziehung. Freiburg: Lambertus-Verlag 2014, S. 131-135. Mit Genehmigung des Lambertus-Verlages. Eingestellt am 12.03.2015