Inobhutnahme (§ 42 SGB VIII): Dynamik, Herausforderungen und Praxisentwicklung

Stefan Rücker und Peter Büttner

Die Inobhutnahme ist ein Instrument der Jugendhilfe, das als kurzfristige Krisenintervention Anwendung findet. Sie dient zum Schutz von Minderjährigen vor akuten Gefährdungssituationen (Lewis et al. 2009). Diese Gefährdungssituationen entwickeln sich in Deutschland in 43% der Fälle bei Überforderung der Eltern bzw. eines Elternteils; aber auch Beziehungsprobleme (16,7%) sowie Vernachlässigung (11,9%) oder Anzeichen für Misshandlungen (9,4%) bilden oftmals die Indikation für Inobhutnahmen (vgl. Destatis 2014).

Das Leistungsfeld Inobhutnahme unterliegt derzeit einem starken Wandel. Noch nie hat es so viele Aufnahmen von Kindern und Jugendlichen gegeben wie heute (siehe auch Petermann et al. 2014). Seit dem Jahr 2005 mit 25.664 Fällen vollzog sich ein drastischer Anstieg in den Fallzahlen auf mittlerweile 42.123 Fälle im Jahr 2013 (Destatis 2014). Dies entspricht einem Anstieg von 64%. Problematisch daran ist, dass die Gründe für diesen Anstieg noch weitgehend ungeklärt sind. Teils lassen sich die erhöhten Fallzahlen sicher anhand des Ausbaus der frühen Hilfen sowie der U3-Betreuung nachvollziehen (Weber 2012), wodurch sich ein früherer Zugang zur entsprechenden Risikogruppe ergeben hat. Auch die Zunahme an unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen (Beißwenger/ Mohr 2013) trägt zur Fallzahlensteigerung bei. Darüber hinaus ist denkbar, dass durch eine erhöhte öffentliche Sensibilität das "wahre Ausmaß" an Kindeswohlgefährdung zu Tage tritt, und die vermehrten Aufnahmen tatsächlich realen Gefährdungslagen geschuldet sind (vgl. auch Paritätischer Gesamtverband 2015).

Andererseits kann gemutmaßt werden, dass die Fachkräfte in den Jugendämtern als Reaktion auf eine intensive mediale Berichterstattung über Kindstötungen durch Eltern "vorsichtshalber" vermehrt Kinder und Jugendliche in Schutz nehmen. Das könnte darauf hinweisen, dass der bedeutsame Anstieg in den Fallzahlen zu einem gewissen Teil unnötige Aufnahmen von Kindern und Jugendlichen beinhaltet. Dies kann jedoch nicht wünschenswert sein, denn die Aufnahme in einer Inobhutnahme-Einrichtung selbst birgt das Risiko einer Traumatisierung, da die unvermittelte Trennung von den Eltern oftmals die Stressbewältigungsmöglichkeiten von Kindern übersteigt (Krause 2010).

Doch nicht die Fallzahlen allein, sondern auch die durchschnittliche Verweildauer von Kindern und Jugendlichen in den Einrichtungen der Inobhutnahme ist in den letzten Jahren stark angestiegen. Obwohl Inobhutnahmen als kurzfristige, vorläufige Schutzmaßnahmen angelegt sind, verbringen in Deutschland die meisten Kinder und Jugendlichen inzwischen mehrere Wochen und manchmal sogar Monate in den Einrichtungen der Inobhutnahme. Lag der Anteil an Inobhutnahmen mit einer Laufzeit von länger als zwei Wochen im Jahr 2005 noch unter 30%, liegt er heute bei deutlich über 40%. In der Umsetzungspraxis ziehen sich die Maßnahmen, wie gesagt, oftmals bis zu einem halben Jahr und länger hin (BMFSFJ 2013). Eine beispielsweise nach Alter, Geschlecht etc. differenzierte Analyse hinsichtlich der Maßnahmen-Dauer wäre wünschenswert und aufschlussreich. Die Bundesstatistik differenziert hier bislang jedoch nur unzureichend, sodass in diesem Punkt Forschungsbedarf besteht.

Lange andauernde Inobhutnahmen sind jedoch ungünstig, da sich aus der eigentlich zum Schutz gewährten Maßnahme selbst auch Belastungen ergeben können: Die vorläufige Herausnahme eines Kindes oder Jugendlichen aus seiner Familie stellt a priori einen massiven Eingriff dar (siehe auch Ziegenhain/ Fegert/ Petermann/ Schneider-Haßloff/ Künster 2014). Bedauerlicherweise besteht ein deutlicher Zusammenhang zwischen dem Alter und der Aufenthaltsdauer, wobei die Maßnahmen bei jüngeren Kindern am längsten andauern. Für den Zeithorizont kleiner Kinder bedeutet dies, dass diese manchmal einen erheblichen Teil ihres bisherigen Lebens in Einrichtungen der Inobhutnahme verbringen. Mit Blick auf die Entwicklung können aber vor allem jüngere Kinder derart drastische Veränderungen oftmals noch nicht einordnen. Vielfach suchen sie deshalb die Gründe für die Aufnahme in eigenem Fehlverhalten und entwickeln starke Schuldgefühle (Kindler/ Werner 2006). Demnach ist die zügige Abklärung der Perspektive für das weitere Leben des jungen Menschen ein wichtiges Erfordernis.

Gleichzeitig verweisen Studienergebnisse auf die hohe Traumavorbelastung, starke psychische Auffälligkeiten und Suizidalität sowie selbstverletzendes Verhalten bei in Obhut genommenen Kindern und Jugendlichen (Rücker 2015a). Bei einem Screening von 515 Jugendlichen mit (Not-) Aufnahme in eine stationäre Jugendhilfe-Einrichtung berichteten 42% über Gedanken an Selbstverletzungen und Suizidalität; über 80% teilten mindestens ein traumatisches Lebensereignis mit. Geschlechtsübergreifend wurden zudem ein hohes Maß an Substanzmittelkonsum sowie aggressive Symptome gefunden (Schmid/ Kölch/ Fegert/ Schmeck 2013). Häufig kommen während der Unterbringung akute Belastungsreaktionen mit Gefühlen von Angst, Wut und Verzweiflung hinzu (Rücker et al. 2015), so dass eine akute Behandlung dringend angezeigt ist. Besonders problematisch daran ist, dass Inobhutnahme-Einrichtungen in den seltensten Fällen Screenings oder Diagnostik durchführen, sodass schwere Akutbelastungen und Gefährdungen bei den Kindern und Jugendlichen übersehen und dringend benötigte Versorgungsleistungen nicht eingeleitet werden. Bleiben solche Belastungen jedoch unberücksichtigt, können sich Beeinträchtigungen in der sozial-emotionalen Entwicklung der betroffenen Kinder und Jugendlichen ergeben, die über die gesamte Lebensspanne persistieren (Tagay/ Repic/ Senf 2013).

Bedauerlich erweist sich zudem, dass in der Inobhutnahme bislang kaum partizipative Prozesse gemeinsam mit den jungen Menschen stattfinden, um die aus Sicht von Kindern und Jugendlichen beste Lösung für die Perspektive im Anschluss an die Inobhutnahme zu entwickeln. Dabei gilt Beteiligung beziehungsweise Partizipation in der Jugendhilfe als Qualitätsmerkmal und spiegelt sich als handlungsleitende Maxime in verschiedenen Gesetzesteilen des SGB VIII wider (zum Beispiel §§ 5, 8, 8a, 12, 17 und 36 SGB VIII). Eine Studie im sozialen Netzwerk Facebook hat allerdings gezeigt, dass die Hälfte der einbezogenen 12- bis 18-Jährigen mit Inobhutnahme-Erfahrung während des Aufenthalts in der Einrichtung bei wichtigen Entscheidungen nicht nach ihrer Meinung gefragt wurde. Vielmehr noch fand in jedem zweiten Fall eine Rückführung in das Elternhaus gegen den Wunsch der Kinder und Jugendlichen statt, obwohl sie dort teils schwere körperliche Misshandlungen erlitten hatten (Rücker/ Büttner/ Fegert/ Petermann 2015).

Die vorgetragenen Problemstellungen zeigen auf, dass Fachkräfte in Einrichtungen der Inobhutnahme oft extrem komplexe Problemlagen bei den aufgenommenen Kindern und Jugendlichen antreffen. Vielfach übersteigen die Anforderungen zudem die Leistungsmöglichkeiten des Settings Inobhutnahme. Aus diesem Grund realisiert die Jugendhilfe-Einrichtung Projekt PETRA aktuell ein Praxisprojekt (PRO-JU-SAVE; Rücker 2015b), das darauf abzielt, selbstschädigende Verhaltensweisen und Symptombelastungen während des Aufenthalts in der Einrichtung zu vermindern sowie Partizipationsmöglichkeiten zu verbessern.

PRO-JU-SAVE ist ein Praxisprojekt, das in enger Abstimmung mit Fachkräften der Inobhutnahme entwickelt wird. In einem ersten Schritt beschrieben die Fachkräfte Problemsituationen im Alltag, für deren Lösung sie sich Unterstützung wünschen. Konkret ging es unter anderem um die Fragen, wie man Kinder und Jugendliche bei emotionalen Zusammenbrüchen stabilisiert, wie viel Nähe und Distanz besonders bei Traumatisierung angeraten ist und wie man erreichen kann, dass junge Menschen während der Inobhutnahme auf Alkoholkonsum oder selbstverletzendes Verhalten verzichten.

Von wissenschaftlicher Seite (Forschungsgruppe PETRA) wurde zunächst nach bereits erprobten und wirksamen Verfahren mit ähnlichen Zielstellungen gesucht. Die Suche gestaltete sich jedoch schwierig. Zwar liegen einige Therapiemethoden für traumatisierte Kinder und Jugendliche vor. Im Bereich der Inobhutnahme mit den häufig kurzen Verweildauern der Kinder und Jugendlichen von einigen Wochen bis wenigen Tagen bleibt für eine mehrere Monate umspannende Therapie jedoch keine Zeit. Das von Projekt PETRA geplante Modul sollte außerdem nicht von Therapeuten, sondern von den pädagogischen Fachkräften in den Einrichtungen umgesetzt werden können. Da sich hiermit offenbar noch kaum jemand beschäftigt hatte, wurde der größte Teil des Moduls neu entwickelt.

Das Gesprächsmodul PRO-JU-SAVE integriert zumindest zum Teil Techniken aus Motivational Interviewing, Gesprächsführung nach Rogers sowie Transtheoretisches Modell. Die Grundtechniken wurden zunächst kritisch auf ihre Anwendbarkeit im Kontext von Inobhutnahme-Maßnahmen geprüft und schließlich insbesondere sprachlich an die spezifischen Bedarfe vollständig überarbeitet. Im Kern entstand so ein direktives, aber non-konfrontatives Gesprächsmodul, das Fachkräften Zusatzkompetenzen hinsichtlich trauma-sensibler Betreuung vermittelt, Veränderungsmotivation bei selbstschädigenden Verhaltensweisen von Kindern und Jugendlichen hervorruft und Partizipationsmöglichkeiten verbessert. PRO-JU-SAVE erfüllt zudem pragmatische Ansprüche, damit es im oft hektischen Alltag einer Inobhutnahme-Einrichtung angewendet werden kann.

Wenngleich das Projekt erst im nächsten Jahr abgeschlossen sein wird, verweisen erste Auswertungen auf den Praxisnutzen sowie auf die Entlastung der Fachkräfte durch einen energieschonenden Einsatz des Moduls. Die Fachkräfte erleben sich durch den Kompetenzzuwachs und den hohen Anwendungsbezug oftmals selbstwirksamer als zuvor. Darüber hinaus bewerten Kinder und Jugendliche, die nach den Prinzipien von PRO-JU-SAVE betreut werden, ihren Aufenthalt in der Inobhutnahme-Einrichtung deutlich positiver als solche, die keinen Zugang dazu haben. Wenn die Abschluss-Evaluation die bislang vorliegenden Eindrücke bestätigt, bewirkt PRO-JU-SAVE bei in Obhut genommenen Kindern und Jugendlichen vor allem einen erheblich verminderten Leidensdruck.

Trotz der ersten, ermutigenden Befunde muss einschränkend gesagt werden, dass PRO-JU-SAVE selbstverständlich nicht die Antwort auf alle Probleme sein kann, die sich für Kinder, Jugendliche und Fachkräfte im Zusammenhang mit Inobhutnahmen ergeben. Vielmehr sollte das Modul als ein Baustein zum Schutz der seelischen und körperlichen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen während der Inobhutnahme verstanden werden. Damit kann ein wichtiger Schritt in Richtung eines umfassenden Kinderschutzes, auch und insbesondere in Einrichtungen der Inobhutnahme, gemacht werden.

Literatur

Beißwenger, M./Mohr, T. (2013): Junge Flüchtlinge viel sorgsamer behandeln. Caritas, 114, S. 11-16

BMFSFJ (2013): 14. Kinder- und Jugendbericht - Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. Berlin: Bundesministerium für Familie, Senioren Frauen und Jugend

Der Paritätische Gesamtverband (2015): Armut auf Höchststand: Studie belegt sprunghaften Armutsanstieg in Deutschland. Pressemeldung vom 19.02.2015

Destatis (2014): Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe - vorläufige Schutzmaßnahmen 2014. www.destatis.de, Pressemitteilung Nr. 262 vom 25.07.2014

Kindler, H./Werner, A. (2006): Wie verläuft eine altersgemäße kognitive und sozioemotionale Entwicklung? In: Kindler, H. (Hrsg.): Handbuch Kindeswohlgefährdung nach § 1666 und Allgemeiner Sozialer Dienst (ASD). München: Deutsches Jugendinstitut, S. 1-15

Krause, M. (2010): Inobhutnahme von Kindern in Krisensituationen - Risiko- und Schutzfaktoren zur Vermeidung von Traumata. Unveröffentlichte Diplomarbeit. Fachhochschule Neubrandenburg

Lewis, G./Riehm, R./Neumann-Witt, A./Bohnstengel, L./Köstler, S./Hensen, G. (2009): Inobhutnahme konkret. Pädagogische Aspekte der Arbeit in der Inobhutnahme und im Kinder- und Jugendnotdienst. Frankfurt am Main: IGFH-Eigenverlag

Petermann, F./Besier, T./Büttner, P./Rücker, S./Schmid, M./Fegert, J.M. (2014): Vorläufige Schutzmaßnahmen für gefährdete Kinder und Jugendliche - Inobhutnahmen in Deutschland. Kindheit und Entwicklung, 23, S. 124-133

Rücker, S. (2015a): In guter Obhut? Neue Caritas, 9, S. 21-23

Rücker, S. (2015b): PRO-JU-SAVE - ein Praxisentwicklungsprojekt zur belastungsspezifischen Betreuung von Kindern und Jugendlichen in der Inobhutnahme (§ 42 SGB VIII). Theraplay. im Druck

Rücker, S./Büttner, P./Böge, I./Koglin, U./Fegert, J.M./Petermann, F. (2015): Belastungen bei Kindern und Jugendlichen in der Inobhutnahme (SGB VIII): Eine Analyse von Fallberichten. Nervenheilkunde, 34, S. 43-48

Rücker, S./Büttner, P./Fegert, J.M./Petermann, F. (2015): Partizipation traumatisierter Kinder und Jugendlicher bei vorläufigen Schutzmaßnahmen (Inobhutnahme, § 42 SGB VIII). Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, im Druck

Schmid, M./Kölch, M./Fegert, J.M./Schmeck, K. (2013): Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse und Erkenntnisse des Modellversuchs Abklärung und Zielerreichung in stationären Massnahmen (MAZ.). Abschlussbericht für den Fachausschuss für die Modellversuche und das Bundesamt für Justiz. https://www.bj.admin.ch/dam/data/bj/sicherheit/smv/modellversuche/evaluationsberichte/maz-schlussbericht-d.pdf (07.07.2015)

Tagay, S./Repic, N./Senf, W. (2013): Traumafolgestörungen bei Erwachsenen, Kindern und Jugendlichen. Psychotherapeut, 58, S. 44-55

Weber, M. (2012): Krisensituationen für positive Weichenstellungen nutzen. Caritas, 113, S. 9-12

Ziegenhain U./Fegert, J.M./Petermann, F./Schneider-Haßloff, H./Künster, A.K. (2014): Inobhutnahme und Bindung. Kindheit und Entwicklung, 23, S. 248-259

Autoren

Dr. Stefan Rücker
Wissenschaftlicher Mitarbeiter Forschungsgruppe PETRA/Projekt PETRA in Schlüchtern.
Schwerpunkte: Wirkungen und Effekte in den Hilfen zur Erziehung; Forschung, Evaluation und Praxistransfer; Qualitätsentwicklung; Inobhutnahme und Kinderschutz.
Kontakt: s.ruecker@projekt-petra.de

PD Dr. Peter Büttner
Geschäftsführer Projekt PETRA GmbH & Co. KG.
Vorstandsmitglied Landesarbeitsgemeinschaft Heime in Hessen.
Vorstandsmitglied SOS Kinderdorf Deutschland e.V.
Kontakt: p.buettner@projekt-petra.de

Adresse

Projekt PETRA
Alte Bahnhofstraße 31
36381 Schlüchtern
Tel.: 06661/6069970
Website: www.projekt-petra.de

Hinweis

Veröffentlicht am 06.07.2015