Hilfen zur Erziehung und sozialräumliche Infrastruktur. Die Kluft zwischen Programmatik und Finanzsteuerung

Wolfgang Hinte

I.

Auf der Basis des im SGB VIII festgeschriebenen Leistungsanspruchs sind angesichts ständig wechselnder, heterogener und immer komplizierterer lebensweltlicher Problemlagen sowie einer gleichzeitigen Erosion der öffentlichen Haushalte solche Finanzierungskonzepte gefragt, die im Rahmen der Erfüllung des Leistungsanspruchs folgenden Kriterien gehorchen sollten:

  • Sie müssen orientieren auf sozialräumlich erbrachte Dienstleistungen: Nur bei konsequenter territorialer Orientierung entfaltet sich die ganze Palette an fachlich wünschenswerten Aspekten (etwa der stärkere Einbezug lebensweltlicher Netze zur Unterstützung der Familien, der systematische Aufbau fallunspezifischer - aber immer auf potenzielle Fälle bezogener - Strukturen, eine integrierte Leistungserbringung in einem Mix aus professioneller Tätigkeit im Rahmen von HZE mit anderen Leistungsbereichen aus den verschiedenen Sozialgesetzbüchern sowie ehrenamtlicher und nachbarschaftlicher Tätigkeit und eine durch "kurze Wege" gekennzeichnete familienaktivierende Arbeit im Rahmen von stationären Settings).

  • Sie müssen den durch Akquise-Verhalten und Konkurrenz geprägten Markt schrittweise ablösen durch eine kooperative Träger-Kultur, die über ein Fachcontrolling einem kontinuierlichen Qualitätswettbewerb unterzogen wird. Dazu benötigen die Leistungserbringer ein gewisses Maß an Planungssicherheit, und zwar durch flexibel bewirtschaftbare Budgets.

  • Sie müssen konsequent Anreize bieten, passgenaue Maßnahmen jenseits der Kategorien ambulant, teilstationär und stationär zu entwickeln und durchzuführen. Solange das Vorhalten von Plätzen, die Auslastung von Einrichtungen sowie die Spezialisierung auf bestimmte Symptome finanziell gefördert werden, wird kein Träger strukturelles Interesse daran entwickeln, flexibler mit Immobilien umzugehen bzw. flexibel arbeitendes Personal einzustellen, das sowohl in Familien, "am Jugendlichen" sowie in einem Gruppensetting - im Ausnahmefall auch mal in einer Immobilie - arbeiten kann.

  • Sie müssen Anreize bieten, die tarifverhandlungsähnlichen Debatten um Leistungsentgelte abzuschaffen zugunsten einer bürokratisch und verhandlungstechnisch unaufwändigen Finanzierungskultur, die dadurch geprägt ist, dass bestimmte Summen mit an bestimmte Indizies gebundenen Steigerungsraten bezogen auf bestimmte Räume sowie der ganzen Stadt den Rahmen bilden für die Leistungserbringung, der - selbstverständlich nur bei nachvollziehbar sich mehrenden Leistungsansprüchen - erweitert werden kann.

  • Sie müssen an einfach zu erhebenden Wirkungsfaktoren orientiert sein, die sich nicht abbilden in hochkomplexen Qualitätsmanagement-Plänen oder seitenlangen Entwicklungsberichten, sondern konsequent auf mit den Betroffenen formulierte Ziele und deren Erreichung bezogen sind. Einfach gesagt: Solche Träger sind gut, denen es gelingt, mit möglichst wenig Aufwand die passenden Unterstützungssettings für die Familien bereit zu stellen, damit diese die von ihnen selbst formulierten Ziele erreichen und von Hilfe unabhängig werden.

II.

Die Aufgabe des Jugendamtes in einem solchen Kontext verändert sich substantiell. Der einzelne Mitarbeiter bis hin zum Leiter sind nicht mehr die "Fallverteiler", die je nach Fall den am besten geeigneten Träger aussuchen (das tun die nämlich derzeit, obwohl das die Familien müssten, die dazu indes kaum in der Lage sind), und das Jugendamt ist auch nicht mehr die "Vergabeinstanz", der man sich als Leistungserbringer grundsätzlich unterordnen muss, obwohl man sieht, dass im Jugendamt ziemlich viel daneben läuft. Vielmehr konzentrieren sich die Jugendamts-Mitarbeiter auf die systematische Erarbeitung von Willen und Zielen der Betroffenen (also die Hilfeplanung), auf den Akt der grundsätzlichen Bewilligung der Leistung und auf die Kontrolle des Systems der Leistungserbringer sowie auf die ständig neu zu leistende Gestaltung der lokalen Trägerlandschaft. Verglichen mit der derzeitigen Praxis spart man dabei viel Zeit. Die jährlichen Leistungs- und Entgelt-Verhandlungen kann man sich schenken, ebenso die zum Teil differenziert durchgeführten Kontrollen über Entwicklungsberichte und "Hineinregieren" in den Einzelfall sowie die zum Teil höchst schwierige Auswahl des "geeigneten" Trägers. Stattdessen konzentriert sich das Jugendamt auf die fachlich-methodischen Aspekte im Falleingang sowie auf das Fachcontrolling der Träger (das natürlich dann die Grundlage für ein ordentliches Abrechnungsverfahren darstellt, das im Übrigen auch erheblich einfacher ist im Vergleich zur äußerst zeitaufwendigen bürokratischen Einzelfallabrechung). Was gerade in diesem Bereich an öffentlichen Geldern verplempert wird (und gar nicht in den Transferkosten auftaucht) ist seit Jahren unvertretbar. Der Kontrollaufwand wird derzeit - auch im Rahmen der Diskussion um den § 8 a - in einer Art und Weise erhöht, die weder dazu beiträgt, den kontrollierten Gegenstand besser zu erfassen noch das System flexibler zu machen, um geeignete Hilfen tatsächlich passgenau und wirkungsvoll zu erbringen. Statt vermehrter formaler Kontrolle braucht es Investitionen in fachlich-methodische Qualität und intellektuelle Investition in die Entwicklung alternativer Finanzierungsformen.

Ein kreatives Jugendamt kriegt heute so ziemlich jede Hilfe "irgendwie" finanziert - zur Not immer nur noch über den § 27. Das Problem ist indes, dass das alles geschehen muss im Rahmen der geltenden Leistungs- und Entgeltvereinbarungen. Die dort niedergelegten Sätze für Fachleistungsstunden, Tagessätze, Leistungspakete usw. fördern jedoch nicht Flexibilität sondern standardisieren eher und tragen insbesondere dem Gebot der Wirtschaftlichkeit in keiner Weise Rechnung. Hochgradig flexible Hilfen, kleinteilig zusammengesetzt und intelligent und passgenau gestrickt, können somit derzeit enorm teuer werden, obwohl sie in der gleichen Qualität mit einer flexibleren Finanzierung erheblich günstiger zu erbringen wären.

III.

Eine wachsende Zahl von Anbietern fördert in unerquicklicher Weise eine angebotsinduzierte Hilfegestaltung sowie eine zunehmend versäulte Landschaft. Jeder Anbieter starrt wie das Kaninchen auf die Schlange (also auf den Kostenträger) und versucht, sich an die dort signalisierten Bedarfe "anzuschmiegen". Diese entsprechen jedoch in keiner Weise dem tatsächlichen Bedarf (sondern vielmehr den zufällig vorhandenen Vorstellungen der im ASD arbeitenden Professionellen über gelungene Biografien), und zudem fördern sie die Herausbildung neuer Säulen, die die Trägerlandschaft am Rotieren halten und einen kapitalistischen Markt unterstützen, der genauso enden wird wie alle Märkte: Überdreht und sinnentleert durch beinharte Konkurrenz und ausgenutzt von Spekulanten werden die dringend notwendigen Strukturen nur noch durch öffentliches Geld aufrechterhalten werden können. Dann kann man sich gleich dieses unsinnige Marktgebaren sparen und statt dessen systematisch eine Trägerlandschaft unterstützen, mit ihr in kooperativer Weise zusammenarbeiten und gleichzeitig über ein gutes Fachcontrolling sicherstellen, dass diese Landschaft flexibel und innovativ bleibt.

IV.

Somit ist hoffentlich klar, dass es nicht darum geht, "das Angebotsspektrum zu verbessern", sondern darum, jeweils bezogen auf den einzelnen Fall hochgradig flexibel das passende Angebot immer wieder neu zu kreieren. Die Rede vom "Angebotsspektrum" führt in die Irre: Es fördert nur noch die 122. Hilfeform, die dann möglicherweise das Angebotsspektrum erweitert oder irgendein altes versäultes Angebot durch ein neues (kurzfristig besseres) ablöst. Worum es heute geht, ist, eine Trägerlandschaft zu befördern, die eben nicht mehr Angebote vorhält sondern in der Lage ist, möglichst wenig standardisiert jeweils bezogen auf den Einzelfall ein Angebot ("Maßanzug") zu kreieren, das gemeinsam mit dem Kostenträger und der betroffenen Familie entwickelt wird (1). Das kann im Extremfall auch mal der klassische Heimplatz sein oder - im anderen Extremfall - die sozialpädagogische Familienhilfe mit 10 Stunden pro Woche. Die Regel wären dann aber eher kleinteilig beschriebene, von mehreren Personen (u.a. einem Erziehungshilfe-Träger) getragene Maßnahmen, die dadurch gekennzeichnet sind, dass die einzelnen Personen innerhalb der Familie bestimmte Aufgaben übernehmen, ein (oder mehrere) Träger flankierend unterstützen, und der Kostenträger zu Beginn der Maßnahme mit der Familie so präzise die Hilfeziele formuliert, dass diese durch den gesamten Hilfeprozess leiten. Selbstverständlich spielen (wenn denn der Träger sozialräumlich gut verankert ist) sozialräumliche Ressourcen (personelle wie materielle) eine große Rolle, und ihre Benennung im Hilfeplan ist von großer Bedeutung (gerade die Träger sollten "belohnt" werden, die derlei Ressourcen in hohem Ausmaß schaffen bzw. heranschaffen). Eine solche Philosophie führt dazu, dass zunächst die Grenzen zwischen ambulant und stationär folgenreich verschwimmen und in einem weiteren Schritt die "guten" Träger sich nicht mehr dadurch auszeichnen, dass sie ein bestimmtes (in der Regel immobiliengestütztes) Angebot vorhalten sondern hochgradig flexibel arbeitendes Personal, das sich entsprechend den im Hilfeplan formulierten Zielen so sensibel auf die Familie einstellt, dass jeweils die richtigen Unterstützungen angeboten werden (und das kann durchaus ein Mix aus eher stationären, eher ambulanten und auch lebensweltlichen Elementen sein). Flexibel arbeitendes Personal wird damit mindestens ebenso wichtig wie das Vorhalten geeigneter Räumlichkeiten, und mit Blick auf derlei Räumlichkeiten wird in diesem Kontext immer mehr von Bedeutung, dass diese Räumlichkeiten flexibel nutzbar sind, möglichst nahe am Sozialraum liegen (um - wenn es angesagt ist - jedwede Rückkehr-Option zu wahren) und dass sie vor allem Zielgruppen unspezifisch sind. Es wird dann vermutlich nur noch für wenige Zielgruppen "Spezialeinrichtungen" geben, die sich mit bestimmten Segmenten beschäftigen (etwa 16-18jährige Mädchen mit frühkindlichem Trauma). Vielmehr wird die Zahl der Einrichtungen zunehmen, die grundsätzlich jedes Kind/ jeden Jugendlichen aufnehmen, nicht mehr danach schauen, ob der Jugendliche in die Einrichtung "passt" sondern die Einrichtung immer wieder neu den Gegebenheiten anpassen, die durch heterogene Gruppenzusammensetzungen entstehen. Das Hilfesystem muss sich den jeweils wechselnden Bedarfen anpassen. Derzeit passen sich die Menschen an das jeweilige Hilfesystem an bzw. werden an das Hilfesystem angepasst, das regelmäßig sein "Angebotsspektrum" verändert, und wenn diese Veränderung vorgenommen wurde, haben sich die Bedarfe längst auch schon wieder verändert.

V.

Ob es den Akteuren auf den unterschiedlichen Seiten nun passt oder nicht: Angesichts der regelmäßig geführten Klagen über die fehlende Passgenauigkeit von Hilfen, die ständige Erhöhung der Haushaltsansätze für zahlreiche Hilfeformen, das regelmäßige Entstehen neuer Institutionen angesichts neuer Hilfebedarfe, die fehlende Mitwirkung der Betroffenen bei der Gewährung und Schneidung von Hilfen sowie die regelmäßigen Unmutsäußerungen der Leistungserbringer über die Kostenträger - angesichts all dieser Klagen und gleichzeitig mit Blick auf die zumindest quantitativ beachtliche Erfolgsgeschichte sowohl im Bereich des SGB VIII sowie auch des SGB XII kommt man an folgender Erkenntnis nicht vorbei: Nicht die marktförmig organisierte Konkurrenz der Leistungsanbieter und die entsprechende Kontrolle des Kostenträgers der jeweils gesponserten und dennoch unkontrolliert wachsenden Landschaft führt zu einer besseren Leistungsgestaltung sondern nur ein kooperatives Verhältnis zwischen Kostenträger, Leistungserbringer und Leistungsempfänger, und dies unter Verzicht auf einzelfallorientierte Fachleistungsstunden und Pflegesätze zugunsten von Pauschal- und Budgetfinanzierungen, bei denen im Konsens zwischen Kostenträger und Leistungserbringer unter Mitwirkung des Hilfeempfängers über die Hilfe entschieden wird, und zwar unter Letztentscheidung des Kostenträgers bei gleichzeitigem Veto-Recht der Leistungserbringerseite. Dies hat sich gezeigt sowohl im Rahmen des Psychiatrie-Budgets der Hansestadt Rostock wie auch in zahlreichen Budget-Varianten (Hinte/ Litges/ Groppe 2003) im Bereich der Jugendhilfe (angefangen von den Städten Stuttgart, Rosenheim, Siegen usw. über die Landkreise Nordfriesland und St. Wendel bis hin zur österreichischen Stadt Graz - s. dazu u.a. Pichlmeier/ Rose 2010; Krammer/ Riegler 2011; Budde et al. 2006; Haller et al. 2007).

Solange dies durch das Finanzierungssystem, durch die §§ 78 a ff. als auch das in den Gerichtsurteilen immer wieder herangezogene Gebot der Berufsfreiheit (und noch durch andere Kleinigkeiten mehr) erschwert wird, bewegen sich all die Jugendämter, die sich in den letzten 10 Jahren mit zum Teil größtem Erfolg in fachlicher und finanzierungstechnischer Hinsicht bewegt haben, auf dünnem Eis. Solange das Marktprinzip gilt (jeder auf dem Markt befindliche Träger in Europa muss potenziell die Gelegenheit haben, jeden auftauchenden Fall zu kriegen, weil ansonsten die Berufsfreiheit gefährdet ist), sind wir in einer Situation, die volkswirtschaftlich unhaltbar und fachlich katastrophal ist (ob sie mit Blick auf die Leistungserbringer betriebswirtschaftlich gescheit ist, wage ich ebenfalls zu bezweifeln). Wir brauchen dringend rechtliche Grundlagen für ein jugendhilfespezifisches Auswahlverfahren sowie für Budget- und andere Pauschalfinanzierungen (s. dazu Stähr 2006).

VI.

Vor allen Debatten um Struktur- und Finanzierungsformen braucht es eine grundlegende Verständigung über den in einer Gebietskörperschaft gewählten fachlichen Fokus. Derzeit grassieren in Tagungsbeiträgen, Staatssekretär-Papieren und behördlichen Vorschlagspapieren immer wieder Formeln wie "sozialräumliche Hilfen" oder "Inklusion und Teilhabe" oder "Nutzung von Ressourcen im Sozialraum". Dabei konzentriert sich die Debatte vielerorts auf eine territorial erbrachte Form der Leistungserbringung ("sozialräumlich"), und dies mit Blick auf eine bessere Nutzung der Regelsysteme sowie die Vermeidung von stationären Unterbringungen (was in der Tat schon ein beachtlicher Fortschritt ist). Ich hoffe, hier wird nicht die alte Weisheit bestätigt: "Wenn du einen fachlichen Ansatz in die Hände von Technokraten gibst, kannst ihn besser selbst in den Ofen werfen."

Die fachlich beste Jugendhilfe ist auch immer die kostengünstigste. Deshalb muss zu Anfang einer jeden Strukturdiskussion eine Verständigung über grundlegende Elemente von Fachlichkeit stehen. Ich habe hier nicht den Raum, den von mir favorisierten fachlichen Ansatz ausführlich darzulegen (s. dazu Hinte/ Treeß 2011), will mir aber insbesondere mit Blick auf eine bei Kostenträgern grassierte Zielformulierungs-Hysterie den Hinweis gestatten, dass der Kern eines jeden sozialraumorientierten Konzepts genau darin besteht, dass die in den Hilfeplänen formulierten Ziele ausdrücklich, systematisch und kleinteilig formuliert auf dem von den Leistungsberechtigten formulierten Willen beruhen. Somit verbietet sich zum Beispiel ein Satz wie: "In Leistungsvereinbarungen mit Trägern ist als regelhafte Zielsetzung und eigene Leistung unter anderem die Gewährleistung eines regelmäßigen Schulbesuches, Hinführung zu einem Schulabschluss, die Gestaltung des Übergangs in eine Berufsausbildung etc. aufzunehmen." (Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration - Hamburg vom 24.08.2011). Hier, wie auch in anderen Papieren, hat es den Anschein, dass Kostenträger gleichsam über die Köpfe der Betroffenen hinweg versuchen, sich geldgesteuert mit Leistungserbringern zu verbünden, um endlich zumindest ansatzweise die Garantie zu erhalten, dass öffentliches Geld konsequent zur Sicherung bürgerlicher (hanseatischer?) Normalität eingesetzt wird - also genau der Impetus, der in Schüben immer wieder die öffentlich finanzierte Sozialarbeit treibt und dem die benachteiligten Milieus seit jeher mit allen Verweigerungsstrategien den Garaus machen.

Beim sozialräumlichen Fachkonzept geht es vor jeder Diskussion um Struktur und Finanzierung um einen Paradigmenwechsel in der Unterstützung benachteiligter Milieus durch den Einsatz öffentlicher Gelder. Im Zentrum jeder Hilfe steht - ausgenommen im Fall der konstatierten Kindesgefährdung - immer der von den Betroffenen formulierte Wille, der möglichst präzise und kleinteilig (also überprüfbar) sich in Zielformulierungen abbildet, die gleichsam den "roten Faden" durch eine Hilfe bilden. Diese Form der kleinschrittigen, oft mühsamen Zielerarbeitung mit den Betroffenen ist genau die Kunst, die die Beschäftigten beim Kostenträger beherrschen müssen. Auf der Grundlage vorgegebener Zielformulierungen, (vermeintlich "fallverstehend") gleichsam gegen die Energie einer hilfesuchenden Familie zu arbeiten bzw. vorschnell eine (oft schwammige) Zielformulierung zu wählen, die keinerlei energetische Ausstrahlung auf den Hilfeverlauf hat, ist grundsätzlich zum Scheitern verurteilt (von Ausnahmen mal abgesehen, bei denen man schlichtweg Glück hatte). Die konsequente Formulierung von seitens der Betroffenen durch eigene Aktivität ("Selbstwirksamkeit") selbst erreichbaren Ziele (bei denen man dann durch einen Leistungsanbieter unterstützt wird) sowie der auf diese Ziele bezogene punktgenaue Einsatz von personalen und sozialräumlichen Ressourcen (insbesondere auch der Regelsysteme) machen den Kern eines sozialräumlichen Ansatzes aus. Damit ist klar: jedes Ziel (es sei denn, es ist ungesetzlich oder schadet anderen Menschen) ist statthaft, und geradezu verboten ist eine seitens des Kostenträgers vorgenommene Intervention unter der Überschrift: "Es wäre aber doch gut, wenn..." oder - schlimmer noch: "Geld gibt es nur, wenn...". Mit Blick auf die formulierten Ziele muss immer auch gelten: Das Hilfesystem muss die passende Unterstützung möglichst frühzeitig zur Verfügung stellen - und das kann auch mal die umgehende stationäre Unterbringung sein. Aber eben: die richtige Hilfe zum richtigen Zeitpunkt schafft die hilfreichste Unterstützung (und nebenbei: sie gehorcht außerdem dem Gebot der sparsamen Bewirtschaftung öffentlicher Mittel). Wenn das System (also sowohl der Kostenträger als auch die gesamte Palette der Leistungsanbieter) nicht systematisch darauf hin orientiert wird, mit diesem Blick an "Fälle" oder "potentielle Fälle" heranzugehen, droht die gesamte Veranstaltung zu einer inhaltsleeren Sparorgie auf Kosten derjenigen Milieus zu werden, in denen eben nicht so häufig bürgerliche Normalbiografien gelebt werden wie unter Sozialarbeitern oder Juristen. (Im Übrigen: unterm Strich kostet diese Kampfansage an die Entrechteten und Benachteiligten erheblich mehr als ein vernünftig gemanagter sozialräumlicher Ansatz auf dem Hintergrund solider Fachlichkeit).

Damit klar ist, worüber wir reden: Kinder und Jugendliche in extremen Verweigerungsphasen, mit autonomen und eigenwilligen Lebensentwürfen bereits in frühem Jugendalter, Kids mit hohem Aggressionspotential, Suchtstrukturen und vielfach diagnostiziertem psychiatrischem Hilfebedarf, also diejenigen, die in der Regel in hochstandardisierten, teuren und in der Regel erfolglosen Hilfeangeboten landen, scheren sich in der Regel einen Teufel um den regelmäßigen Schulbesuch oder die angebotene Lehrstelle. Der Aufbau eines sozialräumlichen, ambulanten und da und dort auch durch eine Immobilie gestützten Netzes mit für jeden "Fall" eigenen Lösungen für die Bereiche Freizeit, Wohnen, Gesundheit und meinetwegen auch Schule und Ausbildung - und zwar unter Einbezug der Eltern - ist eine sozialarbeiterisch spannende und jenseits von vorgegebenen Zielen und vorgehaltenen Strukturen äußerst erfolgversprechende Aufgabe, die zu finanzieren erheblich weniger kostet als ein Heimplatz. Der Aufbau eines Netzes von Leistungserbringern, die sozialräumlich gerade auch in diesen Segmenten hochwertige Arbeit leisten, funktioniert nur im Rahmen eines Fach- und Strukturkonzeptes, dass sowohl für "leichte", "niederschwellige" als auch für "schwere", "hochpreisige" Fälle nach der gleichen Logik funktioniert.

VII.

Für eine sozialräumliche Weiterentwicklung nicht nur der Jugendhilfe, sondern auch der Eingliederungshilfe, der Arbeitsförderung sowie anderer Leistungsbereiche bin ich angesichts einiger programmatischer Entwürfe, auch wenn sie konzeptionell auf hohem Niveau sind (wie etwa der Beitrag der FORUM-Redaktion 2/2011), zurückhaltend, wenn sie nicht ausreichend pragmatisch mit steuerungstechnischen und finanzierungstechnischen Überlegungen unterlegt sind. Der derzeit (nicht nur in Hamburg) diskutierte Entwurf einer besseren Verzahnung "von Einzelhilfen wie von offenen Infrastrukturangeboten" (ebd. S. 13) und die damit einhergehende Forderung nach niedrigschwelligen Angeboten ("ohne Bedarfsprüfung wie Eltern-Cafés, Gästewohnungen, Beratungsangebote, Krabbelgruppen, Mieterfrühstücke, Dolmetscherservice etc." - ebd.) findet ausdrücklich meine Zustimmung, und gleichzeitig warne ich vor allzu hochwertiger Programmatik, wenn sie angesichts einer historisch gewachsenen Landschaft Illusionen fördert, die anschließend nur den Kritikern einer sozialräumlichen Arbeit in die Hände spielt.

Solange wir nicht daran gehen, die (auch in Hamburg vorhandene) Trägervielfalt sozialräumlich und gesamtstädtisch zu ordnen, wird uns die Ökonomie (also das bei den Trägern vorherrschende betriebswirtschaftliche Denken) einen Strich durch die Rechnung machen. Wenn mit dem ohnehin knappen vorhandenen Geld zum einen einzelne Träger für das Vorhalten von Infrastrukturangeboten gefördert werden und zum anderen andere (oder auch die gleichen) Träger über Einzelfälle (über den § 27 SGB VIII) ihren Bestand zu sichern versuchen, wird uns die Ökonomie voll vor die Wand fahren lassen. Auch in der Jugendhilfe war es bislang immer so, dass trotz aller fachlichen Bestrebungen letztlich die Ökonomie (also die Art der Finanzierung der jeweiligen Leistungen sowie die darauf bezogenen Bestrebungen der Leistungserbringer, ihren Bestand zu sichern) die Szene bestimmte. Wenn es nicht gelingt, einen Finanzierungsmodus zu kreieren, der das Zusammenwirken von Einzelhilfen und Infrastruktur-Angeboten regelt und unterstützt, werden wir vom Markt eines Besseren belehrt. Auch derzeit haben wir (nicht nur in Hamburg, sondern in fast allen größeren Städten Deutschlands) zahlreiche Nachbarschaftsheime, Gemeinwesenzentren, Beratungsangebote, Mehrgenerationenhäuser, Familienzentren und andere Einrichtungen, in denen sich die im Papier der FORUM-Redaktion genannten Varianten wie Eltern-Cafés, Krabbelgruppen usw. zuhauf finden. Da all diese Einrichtungen jedoch in der Regel aus völlig anderen Finanzierungsquellen bedient werden (vom Bundesprogramm "Soziale Stadt" über damit zusammenhängende Einzelprogramme bis hin zu Länderfinanzierungen, Stiftungsgeldern, bezirklichen Programmen oder über mehrere Fachressorts verteilte städtische Finanzierungen), ist ihnen relativ egal, ob sich bei ihnen potenzielles HzE-Klientel, Leistungsberechtigte aus der Eingliederungshilfe oder andere Transferleistungs-Empfänger sammeln, da die ihre Finanzierung bestimmenden Programmvokabeln (in der Regel sind das bunte Mischungen aus Auslastungs-Kennziffern, Zielgruppen-Festlegungen oder bestimmten inhaltlichen Parametern wie Integration, Partizipation usw.) nicht auf dieses Klientel orientieren. In Hamburg gibt es seit einiger Zeit - getragen von Trägern der Eingliederungshilfe - Treffpunktangebote, in denen zielgruppenspezifisch sehr gute Arbeit geleistet wird, und zwar häufig mit dem Ergebnis, dass diese Treffpunkte von der jeweiligen Zielgruppe so genutzt werden, dass im Wohnquartier neben den ohnehin vorhandenen 37 Inseln die 38. entstanden ist. Durch diese Arbeit werden interessante neue Varianten sozialräumlicher Eingliederungshilfe ausprobiert, aber die Wirkung ins Quartier (etwa auf die Hilfen zur Erziehung) befindet sich doch eher im homöopathischen Bereich. Die Bürgertreffs im Rahmen des Programms "Soziale Stadt" leisten oft erstklassige Arbeit im Bereich Partizipation und Integration, aber wenn sich mal Klientel aus den Hilfen zur Erziehung dorthin verläuft, zetteln die allenfalls mal eine zünftige Schlägerei an, so dass das engagierte Personal alle methodischen Hebel in Bewegung setzt, diese Klientel bei der Jugendhilfe zu belassen. Will sagen: Solange es nicht gelingt, zumindest einige der zusammenhanglos in der Gegend herum wabernden Finanzierungsstränge so zusammenzuführen, dass die jeweiligen Leistungserbringer eine gemeinsame Verantwortung für die Einhaltung des Budgets haben, werden weiterhin viel Energien in Antragslyrik für neue Programme gesteckt sowie in das Kreieren von Einzelfällen, die dann über den § 27 SGB VIII finanziert werden müssen (Hinte u.a. 2003). Das A und O einer "funktionierenden" sozialräumlichen Landschaft, wie sie etwa auch in den 10 Thesen von Jan Pörksen auf dem Kinder- und Jugendhilfetag in Stuttgart skizziert wird, ist eine integrierte Finanzierungsform, bei der Kostenträger und Leistungserbringer gemeinsam für die Einhaltung von Budgets und die Erbringung der gesetzlich vorgeschriebenen Leistungen verantwortlich sind. In den Gebietskörperschaften, die ich in den letzten 15 Jahren bei der Arbeit mit Sozialraumbudgets im Bereich der Hilfen zur Erziehung begleitet habe, ist der zentrale Erfolgsfaktor, dass es für ein territorial klar umschriebenes Gebiet ein festes Budget gibt, dessen Höhe alle Beteiligten kennen (egal, ob es nun beim Kostenträger bleibt oder direkt an die Leistungserbringer gezahlt wird), und aus diesem Budget müssen sämtliche in diesem Sozialraum anfallenden Hilfen zur Erziehung bestritten werden. Überall zeigt sich, dass die Leistungserbringer, wenn sie verstehen, dass sie über den Auf- und Ausbau von Infrastruktur-Angeboten dazu beitragen, in den kommenden Jahren "Fälle" zu verhindern, eine bunte Landschaft aus derlei Angeboten kreieren, weil sie ein wirtschaftliches Interesse daran haben, eine funktionierende sozialräumliche Struktur zu entwickeln, in der möglichst frühzeitig Menschen in Belastungssituationen Unterstützung erfahren (man könnte auch sagen - auf die Gefahr hin, mal wieder als neo-liberal etikettiert zu werden - : "Fälle" zu verhindern). Nur wenn klar ist, dass

  • Leistungserbringer auf mehrere Jahre hinaus Planungssicherheit haben,

  • sozialräumliche Angebote nicht banal Sport-Spiel-Spannung anbieten sondern gezielt auf solche Bevölkerungsgruppen gerichtet sind, die "übermorgen" zu attestierten Leistungsempfängern werden könnten,

  • die Trägerlandschaft dadurch zur Kooperation angeleitet wird, dass die beteiligten Akteure das vorhandene Geld flexibel einsetzen können und gleichzeitig wissen, dass es nur in Ausnahmefällen "mehr" Geld geben kann,

  • ein fachliches Controlling existiert, das anhand von relativ harten Indikatoren regelmäßig darüber informiert, ob der erwünschte Standard realisiert wird,

wird die sozialräumliche Programmatik tatsächlich realisiert und ihre Wirkung entfalten. Der immer wieder geforderte "Paradigmenwechsel in der Jugendhilfe" (Riez 2011, S. 9) wird sich nur einstellen, wenn es auch einen Paradigmenwechsel in der Finanzierung (s. dazu Hinte u.a. 2007) gibt, und den gibt es nur, wenn wir die gesetzlichen Grundlagen dafür haben und nicht bei jedem Budgetvertrag befürchten müssen, dass eine einsame, nicht mit Fällen bedachte Therapeutin einen Rechtsanwalt losschickt, weil sie ihre Berufsfreiheit gefährdet sieht. Dass sich in diesem Kontext Kostenträger und Leistungserbringer im Rahmen kluger Finanz- und Struktursteuerung des Kostenträgers fachlich "auf Augenhöhe" begegnen müssen, liegt auf der Hand; und ebenfalls ist klar, dass die Leistungserbringer nicht weiterhin den Erhalt der eigenen Institution, der eigenen Immobilie, der eigenen Zielgruppe oder der eigenen Leistungsvereinbarung zum Maß aller Dinge machen können. Stärkere Kooperation unter Leistungserbringern wird da und dort zu Fusionen führen, zur (hoffentlich abgestimmten) Konzentration auf bestimmte soziale Räume, zu Vereinbarungen über Verbundsysteme und da und dort auch dazu, dass der eine oder andere Träger (und das muss sich aus dem Qualitätswettbewerb ergeben) vom Markt verschwindet. Trägerpluralität an sich ist kein Wert, ihre Qualität muss sich erweisen daran, ob sie den Bedarfen der Menschen und den leistungsgesetzlichen Vorgaben dient.

Anmerkung

(1) In der Medizin spricht man heute von der "personalisierten Medizin". Mittlerweile ist man in der Lage, insbesondere in der Krebstherapie anhand einer genauen Genanalyse Medikamente zu entwickeln, die speziell für diesen einen Menschen "die richtigen" sind. Bislang verabreicht man bei "Krebs" ein allgemein wirkendes Medikament gegen diesen "Krebs". Personalisierte Medizin soll insgesamt ca. 20% der Kosten im Medizinbereich einsparen und die Therapie gleichzeitig erheblich genauer und wirksamer machen.

Literatur

Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration (2011): Hilfen zur Erziehung - konzeptionelle Vorschläge zur Weiterentwicklung und Steuerung, 24.08.2011 (unveröffentlicht)

Budde, Wolfgang/Früchtel, Frank/Hinte, Wolfgang (Hrsg.) (2006): Sozialraumorientierung. Wege zu einer veränderten Praxis. Wiesbaden

FORUM-Redaktion (2011): Neue Entscheidungsalternativen für Familien. Perspektiven sozialräumlicher Weiterentwicklung in Hamburg. FORUM für Kinder und Jugendarbeit 2/2011

Haller, Dieter/Hinte, Wolfgang/Kummer, Bernhard ( Hrsg.) (2007): Jenseits von Tradition und Postmoderne. Sozialraumorientierung in der Schweiz, Österreich und Deutschland. Weinheim, Basel

Hinte, Wolfgang/Litges, Gerhard/Groppe, Johannes (2003): Sozialräumliche Finanzierungsmodelle. Qualifizierte Jugendhilfe auch in Zeiten knapper Kassen. Berlin

Hinte, Wolfgang/Menninger, Oswald/Zinner, Georg (2007): Für eine Aufwertung der kommunalen Jugendhilfe. Blätter der Wohlfahrtspflege 5/2007

Hinte, Wolfgang/Treeß, Helga (2011): Sozialraumorientierung in der Jugendhilfe. Theoretische Grundlagen, Handlungsprinzipien und Praxisbeispiele einer kooperativ-integrativen Pädagogik. Weinheim, Basel

Krammer, Ingrid/Riegler, Günter (2011): Jugend- und Familienhilfe: Qualität trotz knapper Kassen? sozial extra 1/2-2011

Riez, Uwe (2011): Die Lage erfordert einen Paradigmenwechsel in der Jugendhilfe. FORUM für Kinder und Jugendarbeit 2/2011

Pichlmeier, Werner/Rose, Gerd (Hrsg.) (2010): Sozialraumorientierte Jugendhilfe in der Praxis. Handreichung für kommunale Entscheidungsträger am Beispiel der Stadt Rosenheim. Ottobrunn

Stähr, Axel (2006): Juristische Grundlagen für die sozialpädagogische Diskussion um Sozialraumorientierung. In: Budde, Wolfgang/Früchtel, Frank/Hinte, Wolfgang (Hrsg.) (2006): Sozialraumorientierung. Wege zu einer veränderten Praxis. Wiesbaden

Quelle

Forum für Kinder- und Jugendarbeit 2012, Heft 3, S. 36-42. Eingestellt am 02.05.2015