Vernetzung von Kindertageseinrichtungen mit psychosozialen Diensten

Martin R. Textor

 

In den letzten Jahrzehnten hat sich die Lebenswelt von Kleinkindern radikal verändert. Aufgrund der Verstädterung haben viele Kinder (naturnahe) Erfahrungs- und Bewegungsräume verloren; spontane Kontakte zu Gleichaltrigen ergeben sich eher selten. Medien wie Fernsehen und Internet bestimmen zunehmend das kindliche Leben. In einem Großteil der Familien sind inzwischen beide Elternteile erwerbstätig. Aufgrund von Erziehungsunsicherheit, mangelnder Erfahrung im Umgang mit Kindern, Stress usw. verhalten sich manche Eltern falsch: Beispielsweise verwöhnen und überbehütend sie ihre Kinder, überfordern sie, sind zu autoritär oder setzen Regeln nicht durch, vernachlässigen ihre Kinder oder misshandeln sie gar. Da die Paarbeziehungen brüchiger geworden sind, erleben viele Kinder die Trennung ihrer Eltern und wachsen dann in Teil- oder Stieffamilien auf.

 

Diese und viele weitere Faktoren tragen dazu bei, dass immer mehr Kleinkinder Entwicklungsverzögerungen, Verhaltensauffälligkeiten und andere Störungen aufweisen. Inzwischen sind rund 25% der Kinder in Tageseinrichtungen in irgendeiner Weise auffällig. Dies erschwert die praktische Arbeit mit der Kindergruppe. Zudem wird von den Erzieher/innen erwartet, diese Kinder heilpädagogisch zu fördern.

 

Um diesen Auftrag angemessen erfüllen zu können, mangelt es aber vielen Erzieher/innen an Zeit und Qualifikation - schließlich haben sich in den letzten Jahren die Personalausstattung von Kindertageseinrichtungen und die Ausbildung der Fachkräfte nicht verbessert, trotz der zunehmenden Anforderungen an die Bildung und (kompensatorische) Erziehung der ihnen anvertrauten Kinder. Hinzu kommt, dass viele Ursachen für die kindlichen Probleme außerhalb der Kindertageseinrichtung liegen und damit von den Erzieher/innen kaum beeinflusst werden können. Beispielsweise können sie selten mehr als ein oder zwei Beratungsgespräche mit Eltern führen, die Erziehungsschwierigkeiten haben oder deren Eheprobleme sich negativ auf die Entwicklung ihrer Kinder auswirken. Erzieher/innen stoßen also schnell an ihre Grenzen und müssen dann Hilfsangebote außerhalb der Tagesstätte vermitteln.

 

Ziele und Formen der Vernetzung

 

Somit sind Kindertageseinrichtungen zunehmend gefordert, sich mit ärztlichen, therapeutischen und psychosozialen Diensten zu vernetzen, um auffälligen oder von Behinderung bedrohten Kindern, beratungsbedürftigen Eltern und problembelasteten Familien adäquate Hilfen zu erschließen. Ziele und Formen der Vernetzung können beispielsweise sein:

 

  1. Kennenlernen der Hilfsangebote vor Ort und im näheren Umkreis: In den letzten Jahrzehnten hat sich das Sozialsystem in der Bundesrepublik Deutschland so stark ausdifferenziert, dass es sogar für Fachleute unübersichtlich geworden ist. Zumindest die Leiter/innen von Kindertageseinrichtungen sollten zu erfassen versuchen, welche Anbieter es in ihrer Region gibt (Jugend-, Sozial-, Gesundheits-, Ausländeramt, Erziehungs-, Ehe-, Drogen-, Sozialberatungsstelle, Kinderärzte, Kinder- und Jugendpsychiater, Frühförderstelle, mobile heilpädagogische Dienste, schulvorbereitende Einrichtungen, Physio-, Ergo-, Psychotherapeuten, Logopäden, Selbsthilfegruppen usw.) und welche Angebote sie machen (Beratung, Erziehungsbeistandschaft, sozialpädagogische Familienhilfe, Wohngeld, Unterhaltsvorschuss, Spiel-, Psychotherapie, Sprachförderung, Psychomotorik usw.), damit sie hilfebedürftige Eltern direkt an die richtige Stelle verweisen können.
  2. Kontaktaufnahme und -pflege: Zumindest zu einem Mitarbeiter der für Kindertageseinrichtungen wichtigsten psychosozialen Dienste - wie z.B. Jugendamt, Frühförder- und Erziehungsberatungsstelle - sollte auch eine persönliche Beziehung bestehen. Wenn die Erzieher/innen direkte Ansprechpartner haben, fällt es ihnen leichter, im Einzelfall ergänzende Informationen über deren Hilfsangebote einzuholen oder Familien weiterzuvermitteln. So sind Eltern für eine Beratung offener, wenn eine Fachkraft sagen kann: "Bei der Erziehungsberatungsstelle kenne ich die Psychologin XY sehr gut. Sie hat schon vielen unseren Eltern geholfen. Soll ich sie einmal anrufen und einen Termin für Sie vereinbaren?"
  3. Intensive Kooperation im Einzelfall: Mit Einverständnis der Sorgeberechtigten können Erzieher/innen und Mitarbeiter/innen psychosozialer Dienste bei einem Einzelfall eng zusammenarbeiten, also z.B. diagnostische Informationen austauschen, einen Hilfeplan entwickeln, (heilpädagogische) Maßnahmen abstimmen oder gemeinsam ein Elterngespräch führen. Auf diese Weise können auch Mehrfachbetreuungen verhindert werden. Falls mehrere Dienste involviert sein müssen, können Helferkonferenzen zur Abstimmung der Interventionen durchgeführt werden.
  4. Beratung bzw. Supervision der Erzieher/innen: Bestehen gute Kontakte zu psychosozialen Diensten, haben Fachkräfte die Möglichkeit, Fragen zu einem Einzelfall (z.B. diagnostische Abklärung, beste Vorgehensweise) mit ihrem Ansprechpartner abzuklären (in anonymisierter Form, falls keine Einwilligung der Eltern vorliegend). Darüber hinaus sind manchmal auch Fall-, Einzel- bzw. Teamsupervision oder Fortbildungen (z.B. zur Gesprächsführung mit Eltern) möglich. So führt Vernetzung zu einem fachlichen Kompetenzgewinn auf Seiten der Erzieher/innen.
  5. Institutionelle Kooperation: Oft haben psychosoziale Dienste und Kindertageseinrichtungen Interesse an einem regelmäßigen Informations- und Erfahrungsaustausch. Zu einer engeren Zusammenarbeit - z.B. in Psychosozialen Arbeitsgemeinschaften oder Stadtteilkonferenzen - kommt es vor allem dann, wenn es gilt, gemeinsame Angebote zu entwickeln (z.B. Elternkurs einer Familienbildungsstätte im Kindergarten, Sprechstunde eines Kinderarztes in der Kinderkrippe, Gesprächskreis einer Erziehungsberaterin im Kinderhort), das soziale System vor Ort genau zu erfassen (z.B. um eine "Wegweiser"-Broschüre zu erstellen), Probleme zu ermitteln (z.B. Überschneidung oder mangelnde Qualität von Angeboten), Erhebungen durchzuführen (z.B. hinsichtlich nicht abgedeckter Bedarfe) oder ein Präventionskonzept zu erstellen bzw. zu evaluieren (z.B. zur Suchtprävention, zur Gesundheits- oder Medienerziehung). Oft treten dank der intensiven Kooperation verschiedener Einrichtungen Synergieeffekte auf. Auch strategische Bündnisse können geschlossen werden, um in Zeiten immer knapper werdender Mittel ein bestimmtes Ziel politisch durchzusetzen ("Gemeinsam ist man stärker!").

 

Zusammenfassend kann man als mögliche Formen der Vernetzung die einzelfallorientierte, die angebotsbezogene und die institutionelle Kooperation unterscheiden.

 

Probleme mit Vernetzung

 

Viele Kindertagesstätten arbeiten nur mit einem Teil der psychosozialen Dienste vor Ort zusammen - oft vor allem mit zu demselben Wohlfahrtsverband gehörenden Einrichtungen (bzw. als kommunale Kindertagesstätte vor allem mit kommunalen Stellen). Gründe hierfür können beispielsweise sein, dass sich lange bestehende Beziehungen "eingeschliffen" haben oder "aus Routine" immer wieder dieselben Angebote vermittelt werden. Hier kann es in Einzelfällen zu Fehlvermittlungen kommen, weil die eigentlich zuständigen Dienste unbekannt sind oder "ignoriert" werden. Dann wird dem Beratungs- und Hilfebedarf der jeweiligen Familie nicht entsprochen bzw. muss diese von der zuerst konsultierten Stelle an die richtige weitergeleitet werden - was die Motivation der Eltern stark schmälern und sogar zu Resignation führen kann. Deshalb sollten diese Kindertageseinrichtungen dringend ihr Netzwerk erweitern.

 

Selbst wenn die psychosozialen Dienste vor Ort bekannt sind, können Erzieher/innen immer wieder in eine Situation geraten, wo sie auf Anhieb keinen geeigneten Ansprechpartner benennen können. In solchen Fällen ist es oftmals sinnvoller, die Familien auf einen weiteren Gesprächstermin zu vertrösten und in der Zwischenzeit Erkundigungen einzuholen, als eine "Standardvermittlung" (beispielsweise an die Erziehungsberatungsstelle) durchzuführen. Wird eine Erzieherin z.B. mit einem sehbehinderten Kind konfrontiert (was recht selten vorkommen dürfte), wird sie oftmals erst nach einer längeren Recherche herausfinden, dass es spezielle Frühförderstellen für blinde und sehbehinderte Kinder gibt - wo "ihr" Kind sicherlich die beste Förderung und seine Eltern die beste Beratung erfahren werden. Mancherorts werden auch "Clearingstellen" eingerichtet oder geplant, die diagnostische und vermittelnde Funktionen übernehmen und auf diese Weise eine effektive und effiziente, weil problemspezifische Nutzung der psychosozialen Dienste sicherstellen sollen.

 

Eine Weitervermittlung an Beratungsstellen oder an Behörden wie das Jugendamt ist vor allem bei sozial schwachen Familien und bei Migrant/innen schwierig, da von ihnen psychosoziale Hilfen oft als Kontrolle bzw. Einmischung erlebt werden, da die Schwellenängste sehr hoch sind oder weil Sprachprobleme die Kommunikation erschweren. In diesen Fällen ist es oftmals hilfreich, wenn der Erstkontakt in der Kindertageseinrichtung erfolgen, die Erzieherin die Eltern zum ersten Gesprächstermin begleiten oder ein Dolmetscher "organisiert" werden kann. Mitarbeiter/innen des Allgemeinen Sozialdienstes, vieler Frühförderstellen und einzelner Erziehungsberatungsstellen machen auch Hausbesuche.

 

Besonders verhaltensauffällige, stark sprachgestörte oder behinderte Kinder werden von Erzieher/innen häufig an eine schulvorbereitende Einrichtung (SVE) empfohlen. Hier besteht die Gefahr, dass sie aufgrund der dadurch erfolgten Zuschreibung bzw. Etikettierung "automatisch" in eine Förderschule kommen. Immer mehr Eltern bevorzugen deshalb integrative Kindertagesstätten oder den Verbleib ihres Kindes in der Regeleinrichtung - mit zusätzlichen therapeutischen Angeboten durch Frühförderstellen oder andere Dienste. So sollten Erzieher/innen zusammen mit den Eltern und externen Fachleuten immer genau prüfen, ob ein Kind wirklich in eine SVE weitervermittelt werden muss.

 

Ein für Erzieher/innen nicht lösbares Problem ist die unzureichende Kapazität der meisten psychosozialen Dienste, die z.B. zu lange Wartezeiten führen kann. Dies ist für Fachkräfte und Eltern frustrierend und demotivierend, insbesondere wenn sich während dieser Zeit die Probleme (des Kindes) verschärfen. Dasselbe gilt für den Fall, dass z.B. für ein Kind kein Platz in einer schulvorbereitenden Einrichtung oder heilpädagogischen Tagesstätte (HPT) gefunden werden kann oder wenn ein Arzt bzw. eine Krankenkasse die als notwendig erachtete physiotherapeutische oder logopädische Behandlung ablehnt. Die finanziellen Spielräume werden immer kleiner, und viele Einrichtungen mussten in den letzten Jahren Stellenkürzungen verkraften. Erzieher/innen können hier bei bestem Willen nicht weiterhelfen - die Kommunal-, Landes- undBundespolitiker/innen sind gefragt!

 

Hinweis

 

Veröffentlicht am 29.03.2006, überprüft und aktualisiert im März 2015