SGB VIII: Die Novellierung vom Oktober 2004

Astrid Fricke

 

I. Neuerungen im SGB VIII

 

1. Die wichtigsten gesetzlichen Änderungen zum 1.1.2005

 

Am 28. Oktober 2004 hat der Bundestag das Tagesbetreuungsausbaugesetz (TAG) - Gesetz zum qualitätsorientierten und bedarfsgerechten Ausbau der Tagesbetreuung - beschlossen (1). Da es nicht möglich war, eine Gesamtnovellierung (Neufassung) des SGB VIII vorzunehmen, hat man nur die Teile zur Abstimmung vorgelegt, die der Bundestag ohne Zustimmung des Bundesrats allein beschließen kann. Damit hat die Verpflichtung, bis zum Jahr 2010 deutlich mehr Kita-Plätze für unter Dreijährige zu schaffen, verbindliche Gesetzeskraft.

 

Im Einzelnen wurden mit Geltung ab 1.1.2005 folgende Rechtsnormen des SGB VIII geändert bzw. neu geschaffen:

 

In dem Abschnitt "Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen und in Kindertagespflege" wurden die bisherigen §§ 22 bis 24 a SGB III neu gefasst. Es gelten somit neue gleichlautende Grundsätze der Förderung für Tageseinrichtungen für Kinder und für Kindertagespflege. Die Abgrenzung zwischen beiden Betreuungsformen findet im jeweiligen Landesrecht statt, § 22 SGB VIII. Die Träger der öffentlichen Jugendhilfe sollen in ihren Tageseinrichtungen eine pädagogische Konzeption entwickeln und einsetzen sowie ihre Arbeit evaluieren. Fachkräfte in den Einrichtungen sollen mit Erziehungsberechtigten und Tagespflegepersonen zusammenarbeiten. Werden Einrichtungen in den Ferienzeiten geschlossen, so hat der Träger der öffentlichen Jugendhilfe bei Bedarf eine anderweitige Betreuungsmöglichkeit sicherzustellen. Kinder mit und ohne Behinderung sollen in Gruppen gemeinsam gefördert werden, zu diesem Zweck soll mit den Trägern der Sozialhilfe zusammengearbeitet werden, § 22 a SGB VIII.

 

Qualifizierten Tagespflegepersonen ist eine laufende Geldleistung zu gewähren, § 23 SGB VIII. Über die Gewährung einer Geldleistung an unterhaltspflichtige Personen (zum Beispiel Großeltern) entscheidet der Träger der öffentlichen Jugendhilfe nach pflichtgemäßem Ermessen.

 

Bei der Inanspruchnahme von Tageseinrichtungen und Kindertagespflege stellt der Gesetzgeber nunmehr klar, dass für die Altersgruppe vom vollendeten dritten Lebensjahr an ein bedarfsgerechtes Angebot von Ganztagsplätzen oder ergänzend Förderung in Kindertagespflege zur Verfügung stehen muss. Für Kinder im Alter unter drei Jahren und im schulpflichtigen Alter ist ein bedarfsgerechtes Angebot an Plätzen in Tageseinrichtungen und in Kindertagespflege vorzuhalten. Ein Mindestangebot ist für unter Dreijährige, deren Eltern erwerbstätig sind oder die sich in beruflichen Bildungsmaßnahmen oder in Maßnahmen zur Eingliederung in Arbeit befinden, zu gewährleisten, § 24 SGB VIII. § 24 a SGB VIII enthält Übergangsregelungen für die Ausgestaltung des Förderungsangebots bis zum 1.10.2010. Solange das erforderliche Angebot noch nicht zur Verfügung steht, sind Kinder, deren Wohl nicht gesichert ist oder deren Eltern oder alleinerziehende Elternteile eine Ausbildung antreten, eine Arbeit aufnehmen oder an einer Maßnahme nach Hartz IV teilnehmen, bevorzugt zu berücksichtigen.

 

Zur Durchführung der Aufgaben der Förderung in Tageseinrichtungen und in Kindertagespflege können kreisangehörige Gemeinden und Gemeindeverbände herangezogen werden, sofern Landesrecht dies bestimmt (neuer Absatz 5 des § 69 SGB VIII).

 

2. Geplante Änderungen des SGB VIII im laufenden Gesetzgebungsverfahren

 

Im Übrigen befindet sich die SGB VIII-Novelle noch im Gesetzgebungsverfahren. - betr. die Weiterentwicklung der Kinder - und Jugendhilfe. Danach ist u.a. folgendes geplant:

 

  • Die Verbesserung der Kinder- und Jugendhilfestatistik.
  • Verbesserte Steuerung, Verwaltungsvereinfachung und mehr Wirtschaftlichkeit der Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe.
  • Der Auftrag der Jugendhilfe, das Wohl des Kindes bei Gefährdung zu schützen, muss konkreter ausgestaltet, überdies muss das Kindeswohl im Datenschutz stärker berücksichtigt werden.
  • Der Zuständigkeitswechsel bei längerfristiger Vollzeitpflege vom gewöhnlichen Aufenthaltsort der Eltern zum gewöhnlichen Aufenthaltsort der Pflegeperson (§ 86 VI SGB VIII) wird gestrichen (2).

Bei der Forderung nach mehr Wirtschaftlichkeit ergibt sich das Problem, dass Leistungen der Jugendhilfe primär nicht Geldleistungen umfassen, sondern personenbezogene soziale Dienstleistungen. Künftig also nur noch "Leistungsgewährung nach Kassenlage?" (3).

 

Im Falle einer Kindeswohlgefährdung soll es für das Jugendamt eine erweiterte Befugnis der Datenerhebung bei Dritten geben sowie die Möglichkeit einer Weitergabe anvertrauter Daten bei einem Zuständigkeitswechsel. Die Inobhutnahme bzw. Herausnahme eines Kindes (§§ 42, 43 SGB VIII) soll neu geregelt werden; danach soll das Jugendamt künftig ausdrücklich zur Wegnahme eines Kindes bei akuter Gefährdung auch gegenüber dem Personensorgeberechtigten ermächtigt werden. Auch die Erstversorgung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge soll im SGB VIII ausdrücklich auf eine gesetzliche Grundlage gestellt werden.

 

3. Weiterer Reformbedarf?

 

Einzelne Bundesländer, der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge, die kommunalen Spitzenverbände und die freien Wohlfahrtsverbände halten darüber hinaus weitere Regelungsbereiche des SGB VIII für reformbedürftig und vertreten jeweils unterschiedliche Positionen. Als regelungsbedürftige Probleme werden unter anderem Kostensteigerungen im Bereich der Inanspruchnahme von Leistungen nach § 35 a SGB VIII (Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche) angesehen. Als Grund hierfür wird geltend gemacht, dass, anders als bei Leistungen der Eingliederungshilfe gem. §§ 53 ff. SGB XII, Rechtsansprüche junger Menschen nicht nur bei wesentlicher oder drohender wesentlicher Behinderung, sondern auch bei geringeren Abweichungen der seelischen Gesundheit von dem für das Lebensalter typischen Zustand gegeben sein können. Hier sind insbesondere Teilleistungsstörungen im schulischen Bereich wie Rechenstörungen oder Lese-Rechtschreibschwäche zu nennen, welche einen hohen Anteil der seelischen Behinderungen im Kindes- und Jugendalter ausmachen. Die Verantwortlichkeit der Schule werde in diesem Bereich nur unzureichend wahrgenommen, die Jugendhilfe somit verstärkt belastet. Hinzu kommen Abgrenzungsschwierigkeiten im Hinblick auf behinderte junge Menschen zwischen Jugendhilfe, Schule, Sozialhilfe und Krankenversicherung. Die Zuordnung nur der Maßnahmen der Eingliederungshilfe für junge Menschen zur Jugendhilfe, die seelisch behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht sind (sog. "kleine Lösung") wird als wenig überzeugender Kompromiss angesehen (4). Bei der Hilfe für junge Volljährige werden schließlich Zuständigkeitsstreitigkeiten zwischen Jugend- und Sozialhilfe aufgeführt.

 

"Alle drei Ebenen", also fachliche, strukturelle und finanzielle Möglichkeiten, seien zu bewerten und abzuwägen (5), um die aufgeführten Problemlagen zu beheben.

 

II. Konzept der Neuen Steuerung und Sozialraumorientierung

 

"Neue Steuerung" und "Sozialraumorientierung" bestimmen neben den gesetzlichen Rahmenbedingungen die Praxis der Jugendhilfe. Beim Konzept der Neuen Steuerung für die öffentliche Verwaltung geht es vordergründig um Produktbeschreibungen und die Entwicklung von Kennzahlen im Rahmen umfassender Sparbemühungen. Kennzahlen beziehen sich vornehmlich auf Kosten und Leistungsvolumen (Fallzahlen). Das stößt auf Kritik - "Leistungsgewährung nach Kassenlage?" (s.o.).

 

Auch Sozialraumkonzepte stehen auf dem rechtlichen Prüfstand. Mit der Sozialraumorientierung sollte für die Jugendhilfe ein alternatives Konzept entwickelt werden, welches die Gestaltung sozialer Arbeit nach fachlichen Zielen beinhaltet und einfordert. Sozialraumorientierung ist unter anderem gekennzeichnet durch Kontraktmanagement und die Einbindung ausgewählter auch gewerblicher privatrechtlicher Träger bei der Aufgabenerfüllung und befindet sich derzeit vielerorts noch in einer Erprobungsphase (6). Als rechtliche Bedenken bei der Sozialraumorientierung sind die Einschränkung des Wunsch- und Wahlrechts der Leistungsberechtigten bei der Auswahl von Leistungsanbietern (7), die faktische Verknappung der Trägervielfalt und die Gefahr, dass im Gesetz vorgesehene individuelle Rechtsansprüche durch die Schaffung von Budgets nicht hinreichend realisiert werden können, genannt worden (8). Entscheidungen der Verwaltungsgerichte haben ferner eine Einschränkung der Berufsausübungsfreiheit dort gesehen, wo sozialraumorientierte Finanzierungskonzepte die Berücksichtigung bestimmter Träger der freien Jugendhilfe beim Abschluss regionaler Versorgungs- und Kooperationsverträge ausschlossen (9).

 

III. Fazit: Keine "Flucht aus dem Sozialrecht" - SGB VIII als "work in progress"

 

Eine sozialpolitische Steuerung durch Recht, durch das SGB VIII, muss erhalten bleiben, eine "Flucht aus dem Sozialrecht" darf nicht stattfinden. Der Bund muss seine Zuständigkeit für die Gesetzgebung im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe behalten, damit nicht unterschiedliche Standards in den Bundesländern bei der Gewährung von Jugendhilfeleistungen geschaffen werden und somit endgültig eine "Steuerung durch Geld" erfolgt. Im übrigen bleibt zu hoffen, dass die erheblichen kostenneutralen Verbesserungen und wenig spektakulären aber sinnvollen Anpassungen, die in der Novellierung des SGB VIII enthalten sind, das weitere Gesetzgebungsverfahren rasch passieren werden.

 

Endnoten

 

  1. Vgl. zur SGB VIII-Novellierung Wiesner, ZfJ 2004, 441-452. Zum Gesetzgebungsverfahren vgl. BT-Drucksache 15/3676.
  2. Zur Begründung BT-Drucksache 15/3676, S. 40. Kritisch hierzu Struzyna ZfJ 05, 104 ff.
  3. Kritisch hierzu Wiesner ZfJ 04, 442 ff.
  4. Deutscher Verein in ZfJ 05, 21 f.
  5. Deutscher Verein a.a.O.
  6. Burmeister, NDV 2005, 87 ff. (90).
  7. Münder ZfJ 05, 94.
  8. Münder, ZfJ 05, 89; zur Praxis einer Sozialraumorientierung in der Jugendhilfe vgl. Schnurr, ZfJ 05, S. 99.
  9. VG Berlin, B. v. 19.10.2004, ZfJ 05, 114 ff.; OVG Hamburg, B. v. 10.11.2004, ZfJ 05, 118 ff. - beide Beschlüsse ergangen in Verfahren der einstweiligen Anordnung.

Autorin

 

Astrid Fricke, Professorin für Jugendrecht, Kinder- und Jugendhilferecht und Familienrecht an der FH Braunschweig/Wolfenbüttel, verstarb im Jahr 2011.

 

Hinweis

 

Veröffentlicht am 19.05.2005 unter dem Titel "Was gibt es Neues im Kinder- und Jugendhilferecht?" Im März 2015 von den Herausgebern überprüft und in Rücksprache mit dem Ehemann der Autorin mit einem neuen Titel versehen