Schenkste mir mal 'n paar Cent? Die Lebenssituation von Straßenkindern und Ansätze sozialpädagogischer Hilfen

Kathrin Macke

Dem aufmerksamen Besucher einiger bundesdeutschen Metropolen (Berlin, Hamburg, Köln, Frankfurt u.a.) fallen Kinder und Jugendliche auf, die scheinbar ohne Familie und Unterkunft auf der Straße leben und sich durch Betteln ihren Lebensunterhalt sichern.

Eine Passage am Alexanderplatz. Fast täglich trifft sich hier die 14jährige Sandra mit ihren Freunden. Die 12- bis 16jährigen sind Straßenkinder. Sie wohnen in leerstehenden Häusern der näheren Umgebung oder auch weiter weg, treffen sich jedoch kontinuierlich am Alex zum Schnorren und Abhängen. Sandra zählt sich zu den Punks, ihrer Ersatzfamilie. "Punks sind füreinander da und helfen sich gegenseitig", sagt sie. Ihr Alltag wird von den Bedürfnissen des täglichen Lebens bestimmt: "Ich muß mir täglich das organisieren, was ich brauche".

Zur Schule geht Sandra schon lange nicht mehr. Zu ihren Eltern hat sie nur einen losen Kontakt. Nach Streß mit dem Stiefvater und dann auch in der Schule riß Sandra mit 12 Jahren das erste Mal von zu Hause aus. Nachdem sie zweimal vom Jugendamt wieder zu einem Neuanfang mit den Eltern zurückgebracht wurde, tauchte sie beim dritten Mal vollständig in der Straßenszene unter. Pläne für die Zukunft hat sie nicht (die tageszeitung 09.03.1996).

Straßenkinder in Deutschland sind seit Anfang der 1990er Jahre nicht nur eine Entdeckung und Lieblingskinder der Massenmedien, sondern auch in Fachkreisen vieldiskutierte Realität. Der symbolträchtige Begriff Straßenkinder ruft Emotionen und die Frage nach den Schuldigen in Familie, Schule, Jugendhilfe und Gesellschaft hervor.

Eigentlich dürfte es in Deutschland überhaupt keine Straßenkinder geben, da alle Minderjährigen, die nicht in ihrer Familie leben wollen oder können, das Recht auf Inobhutnahme durch die Jugendhilfe haben, die auch klären muss, ob sie wieder Zuhause oder in einer Jugendhilfeeinrichtung untergebracht werden sollen (Permien/ Zink 1996, S. 39). Aber es gab und gibt sie, die Minderjährigen, die sich den gesellschaftlichen Sozialisationsinstanzen entziehen und ins Straßenmilieu abtauchen. Und es scheint als würde die Hoffnungslosigkeit und Verelendung dieser Kids zunehmen ( Zur Darstellung der subjektiven Lebenswelt von Straßenkindern wurden Berichte/ Interviews aus den Massenmedien berücksichtigt. Die beschriebenen oder zu Wort kommenden Straßenkinder sind alle minderjährig und zwischen 14- und 17 Jahre alt).

1. Kinder und Jugendliche auf der Straße

Die Zahl der auf der Straße zeitweilig oder langfristig lebenden Kinder und Jugendlichen kann nur vage genannt werden. Ende 1995 ließ das Familienministerium die Zahl von 5.000 bis 7.000 "obdachlosen" Kindern verkünden und stellte erstmals einen Etat für Hilfeprojekte zur Verfügung. In einer Reportage des ZDF vom 13.08.02 wird von etwa 2.500 obdachlosen Minderjährigen ausgegangen, die zeitweise ihr Dasein auf der Straße fristen. Es gibt, wie auch bei den erwachsenen Wohnungslosen, keine bundesweite Statistik. Einige Kommunen befragen die spezifischen Hilfeeinrichtungen, um an Zahlenmaterial zu gelangen, andere führen Zählungen an den Treffpunkten der Straßenkinder durch. Nur bei Inanspruchnahme von Mitteln der Jugendhilfe, z.B. bei einer zeitweiligen Unterbringung, werden persönliche Daten erhoben, die jedoch nicht in nationale Statistiken einfließen.

Auch eine eindeutige Definition, welche Kinder und Jugendliche als Straßenkinder gemeint sind, fehlt. Das DJI ( Projektgruppe "Straßenkarrieren von Kindern und Jugendlichen", 1996, S. 138) nennt folgende Merkmale als Definitionsgrundlage:

  • weitgehende Abkehr von gesellschaftlich vorgesehenen Sozialisationsinstanzen wie Familie oder ersatzweise Jugendhilfeeinrichtungen sowie Schule und Ausbildung,
  • Hinwendung zur Straße, die zur wesentlichen oder zur einzigen Sozialisationsinstanz (zum Lebensmittelpunkt) wird,
  • das Handeln verstößt gegen gesellschaftlich anerkannte und durchgesetzte Normen und Werte (Drogenkonsum, Betteln, Prostitution, kriminelles Verhalten usw.),
  • faktische und andauernde Obdachlosigkeit.

Der überwiegende Anteil der Straßenkinder ist 12 Jahre und älter, es gibt jedoch auch 8-jährige, die in diesem Milieu zeitweise leben. Viele von ihnen kommen aus ländlichen Gebieten und tauchen in der Anonymität der Großstädte unter.

Wie es sich darstellt, gibt es keinerlei gesicherte Aussagen über das Alter und die Verweildauer von Kindern und Jugendlichen im Straßenmilieu. Teilweise sind sie weiterhin bei ihren Eltern gemeldet, sie wohnen in Abbruchhäusern, bei Freiern oder anderen Mitgliedern der Szene; alles Faktoren, die eine genauere zahlenmäßige Bestimmung dieses Problems erschweren.

Während zuerst vorrangig Jungen (Punker, Strichjungen etc.) im Milieu wahrgenommen wurden, wird seit einigen Jahren ein steigender weiblicher Anteil beobachtet. Wobei der Entschluss von Mädchen, sich den Gruppen anzuschließen, anscheinend einer anderen Dynamik folgt als bei den Jungen. Während Jungen relativ zielgerichtet die Szene aufsuchen, scheinen Mädchen sich erst nach verschiedenen zwischenzeitlichen anderweitigen Unterbringungen und Rückkehr ins Elternhaus für ein Leben auf der Straße zu entscheiden. Permien und Zink (1996, S. 41) weisen daraufhin, dass Mädchen in der Szene unauffälliger und unsichtbarer sind: "Sie sind für ihr Überleben mehr als die Jungen auf Männer angewiesen, wobei die Übergänge zwischen Freund, Freier und Zuhälter oft fließend sind. ... Mädchen fallen auch weniger durch Delikte wie Autoklau und unerlaubtes Fahren, wie Raub, Diebstahl und Körperverletzung auf."

Im Sommer und kurz vor Beginn der Ferien nimmt die Zahl der Straßenkinder zu. Viele dieser Ausreißer kehren beim Herannahen des Winters wieder nach Hause zurück, in der Szene werden diese Kids als Touris bezeichnet.

Für den überwiegenden Teil der Straßenkinder stellt das Leben im Milieu eine vorübergehende Phase dar. Früher oder später werden von ihnen Hilfeangebote aufgesucht und eine Integration angestrebt. Daneben gibt es jedoch auch Fälle von totaler Verelendung und frühem Drogentod.

2. Hintergründe

Warum verlassen Kinder und Jugendliche ihr Zuhause und entscheiden sich für ein gesellschaftlich isoliertes, unsicheres Leben im Straßenmilieu der Metropolen?

Sie stammen aus allen gesellschaftlichen Schichten; die Flucht aus dem Elternhaus findet vor dem Hintergrund von Vernachlässigung, Misshandlungen und Missbrauch statt. Materielle Not spielt nur eine untergeordnete Rolle.

2.1 Familiale Sozialisation

In den Berichten und Interviews von Straßenkindern werden unterschiedliche familiale Erfahrungen geschildert, die den Entschluss für ein Leben im Straßenmilieu herbeiführt haben:

  • Ambivalentes Erziehungsverhalten: Das erzieherische Verhalten der Eltern ist für das Kind nicht nachvollziehbar. Zuwendung, Ablehnung, Belohnung und Strafe scheinen willkürlich und nicht als bewusst eingesetztes Mittel, um das Verhalten beim Kind zu regulieren.
  • Unangebrachtes autoritäres Verhalten: Ajax: " Meine Mutter hat mich wegen jeder Kleinigkeit verprügelt... mal hatte ich den Aschenbecher nicht ausgeschüttet, mal den Mülleimer nicht runtergetragen" (Der Spiegel 44/1995, S.70).
  • Aufschaukelungseffekte: Auf Störungen und Konflikte wird von den Eltern mit einem hohen Maß an Verhaltenskontrolle reagiert (Verbote, zum Teil drakonische Strafen usw.). Dies setzt häufig einen Teufelskreis von Auflehnung, Bestrafung, erneuter Auflehnung und massiver Bestrafung in Gang. Insbesondere bei Mädchen kulminieren diese Aushandlungsprozesse um Ausgehzeiten und Reglementierungen hinsichtlich des Freundeskreises zur Flucht aus dem Elternhaus.
  • Emotionale Kälte und Forderungen zur Unauffälligkeit: Elli's Eltern sind beide berufstätig und gutsituiert. Geld spielt keine Rolle. " Wenn ich eine Eins geschrieben hatte, bekam ich immer 50 DM, aber gefreut hat sich mit mir keiner". Sie wurde früh gezwungen, sich wie eine Tochter aus gutem Haus zu benehmen. "Freizeit habe ich nie so richtig gehabt. Nach der Schule mußte ich lernen, dann zum Schwimmverein und danach zum Klavierunterricht. Später wurde ich im Schwimmverein abgemeldet und mußte Tennis spielen. Wenn meine Freundinnen nach dem Tennis noch was unternehmen wollten, mußte ich schon wieder los, um pünktlich in der Klavierstunde zu sein. So lief das immer". Elli ist mit fünfzehn abgehauen, sie hatte gerade vier Monate Hausarrest durch ihre Eltern hinter sich (Britten 1995, S. 33).
  • Sucht der Eltern/ Alleinerziehende: Arbeitslosigkeit/ Unzufriedenheit und Stress der Eltern: Stöpsel: "Mein Vater ist Alkoholiker, der hat genug mit sich selbst zu tun. Der hat das Sorgerecht. Als ich kleiner war und er noch Arbeit hatte, lief´s auch einigermaßen. Dann hat er Probleme bekommen mit dem Job, mit dem Geld und mit seiner Freundin. Es gab nur noch Zoff. Da habe ich irgendwann meine Sachen gepackt und bin nach Berlin" (Der Spiegel 44/1995, S. 70).
  • Missbrauch/ Misshandlung in der Familie: Diese Gewaltanwendung und Ausübung von Macht ist ein deutliches Zeichen für das Nichtgelingen familialer Sozialisation. Ob diese Erfahrungen zwangsläufig zur Prostitution führen ist nicht abschließend geklärt. Nini erzählt von ihrem bevorstehenden Prozess. Leise und flüssig spricht sie, wendet ihren Kopf nicht hoch, sieht nur auf den Schreibtisch. Nach fast zehn Jahren hat sie sich entschieden, ihren Stiefvater anzuzeigen. Wenn der besoffen war, hat er sie vergewaltigt... Das erzählt sie so beiläufig, als berichte sie über einen Fahrradunfall. Sie flüchtete schließlich Abend für Abend in den Mikrokosmos Hauptbahnhof, wo sie Freunde fand, denen es genauso beschissen ergangen war wie ihr (die tageszeitung 21./22.11.1998).

Die Biographien der Straßenkinder sind von Vernachlässigung, Gewalt, Beziehungslosigkeit und Vertrauensmangel geprägt.

2.2 Funktion der Schule

Zwar wurde die Schule als ausschlaggebender Faktor für die Flucht aus dem Elternhaus nicht genannt, es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass der Schulbesuch als zusätzlich belastende Situation eine Rolle spielt. Negative Schulerlebnisse kulminieren als weiterer Stressfaktor mit dem Elternverhalten. Möller/ Radloff (1998, S. 155 ff), die Straßenkinder zu ihren Schulerfahrungen befragten, berichten, dass diese Jugendlichen die Schule als wichtigen kontinuierlichen Rahmen wahrnehmen. Daneben wurde Schule als eine Instanz erlebt, in der Leistungsverhalten und Erfolg zwar anerkannt sind, emotionale und psychosoziale Probleme dagegen kaum bemerkt, geschweige dann angesprochen werden. Erschwerend kommt hinzu, dass die Lehrerinnen und Lehrer selbst bei Kenntnis schwieriger familialer Sozialisationsbedingungen offensichtlich nicht in der Lage sind, den Kinder und Jugendlichen konstante positive Beziehungsangebote zu machen.

Es lässt sich feststellen:

  • Bei dem vorherrschenden Verständnis der Schule als Dienstleistungsanbieter für Lernwillige werden Störenfriede und schwierige Kinder und Jugendliche nicht gerne gesehen, es überwiegt eher Erleichterung, wenn sie nicht da sind.
  • Die Schule ist nicht in der Lage, kompensatorische Funktionen zu übernehmen.
  • Die Systeme Schule und Jugendhilfe kooperieren zu wenig miteinander. Die Institution Schule hat nur wenige Kenntnisse über spezifische Angebote der Jugendhilfe, zudem wird das Jugendamt über verhaltensauffällige Kinder (z.B. Schulschwänzer) nicht oder zu spät informiert.

Schule ist kein auslösender Faktor für die Flucht aus dem Elternhaus, aber bei einer lebensweltorientierten Wahrnehmung der Schülerinnen und Schüler und einer daraus resultierenden Kooperationsbereitschaft könnte Schule sehr wohl Straßenkarrieren verhindern.

2. 3 Lebenssituation auf der Straße

Während die ersten Kontakte der Kids mit der Straßenszene eher von Neugier und Abenteuerlust geprägt sind, führt ein längeres Leben in diesem Milieu sehr wahrscheinlich zu einer Verfestigung abweichenden Verhaltens. Die Überlebenspraktiken, die für ein Leben ohne gesichertes Obdach und gesicherte finanzielle Mittel bestimmend sind, entsprechen nur bedingt den gesellschaftlichen Normen und Werten.

Es ist allgemein bekannt, an welchen Orten und Plätzen sich Straßenkinder aufhalten. Kinder und Jugendliche, die ihre Familien verlassen wollen, haben entweder schon Kenntnisse, wie sie zu diesen Treffpunkten kommen oder verfügen bereits über erste Kontakte zur Szene. Diese Szene setzt sich aus Minderjährigen mit gleichen oder ähnlichen Vorerfahrungen und Problemlagen zusammen. Die Gleichaltrigengruppe erscheint als eine wirkliche Alternative zu den Konflikten, dem Unverständnis und der emotionalen Kälte in der Familie. Die Gruppe ist Mittel zur Selbstdefinition, Identifikation, Hort der Geborgenheit und Festung gegenüber dem Unverständnis und der Verachtung der Gesellschaft. Daneben sind diese Gruppierungen so fragil und unbeständig, dass dauerhafte stabilisierende Beziehungen eher die Ausnahme darstellen.

Eine wichtige Differenzierung der Gruppen im Milieu erfolgt über den Konsum von Drogen. In einigen Gruppen ist der Konsum von Bier und Cannabis legitim, harte Alkoholika und harte Drogen dagegen total verpönt. Heroin und Kokain werden gerade von den jüngeren Straßenkids abgelehnt, dagegen sind chemische Drogen (z.B. Ecstasy) bei dieser Gruppe beliebt.

2.4 Das Milieu als vorübergehende Alternative

Die Gruppen/ Kids, die sich relativ bewusst für ein vorübergehendes Leben im Milieu entschieden haben, um der familialen Situation zu entkommen. Sie achten auf ihr Äußeres, konsumieren nur gelegentlich Drogen und prostituieren sich nicht. Daneben verfügen sie über die Fähigkeit relativ stabile Beziehungen aufzubauen und ihre Bedürfnisse (auch gegenüber den Hilfeanbietern) zu artikulieren und auch durchzusetzen. Diese Kids entwickeln Alternativen für ein Leben außerhalb des Straßenmilieus.

Stöpsel: "Ich komme regelmäßig hier ins Cafe und stelle mich unter die Brause. Ich achte da schon drauf, daß ich einigermaßen sauber bin. Krätze und Läuse sind auf der Straße echt weit verbreitet. Ich kenne eine Menge Leute, die lassen sich einfach hängen. Von denen halte ich mich fern." Ajax: "Ich hatte eine Freundin, die war auf dem Strich, die wollte mir immer die Plätze zeigen, wo man einen abschleppen kann. Nein danke kann ich da nur sagen, ich hab´ noch meinen Stolz." Krähe: "Sandra war vor kurzem dauern auf Speed. Da habe ich versucht mit ihr zu reden. Ich finde, wenn jemand mal was nimmt, ist das in Ordnung. Aber nicht jeden Tag. Irgendwann hat sie´s dann eingesehen und hat aufs Essen geschnorrt und nicht auf Speed." Stöpsel: "Ich will die Schule zu Ende machen. Mal schauen, wenn ich 16 bin, ob ich das hinkriege übers Jugendamt. Ich hoffe das ich mein Leben irgendwie auf die Reihe bringe" (Der Spiegel 44/1995, S. 68 ff).

2.5. Allmähliche Resignation

Die Gruppen/ Kids, die durch mannigfache Enttäuschungen desillusioniert sind. Sie achten auf Äußerlichkeiten, den Drogenkonsum und prostituieren sich nicht, glauben aber nur bedingt an eine wirkliche Abänderung ihrer Lebenssituation. Ihre Gruppenbeziehungen sind weniger stabil und die Lebenssituation im Straßenmilieu wird als immer belastender empfunden.

Ajax: "Also bei Heroin hört´s auf. Aber Speed und LSD sind okay. Wenn ich ´nen Depri schiebe, trinke ich soviel, bis ich keinen klaren Gedanken mehr fassen kann. Wenn man Probleme hat, dann säuft man eben,...". "ich will auf keinen Fall älter werden als 22. Wenn ich die Leute um mich sehe, die schon alt sind, die den ganzen Tag saufen und keine Perspektive haben, da muß ich sagen, ich habe einfach keinen Bock drauf, 30 zu werden. Da gebe ich mir lieber die Kugel" (Der Spiegel 44/1995, S. 68 ff).

2.6. Tendenzielle Selbstaufgabe

Die Gruppen/ Kids, die die Normierungen und Werte des Straßenmilieus internalisieren. Sie fühlen sich gesellschaftlich ausgegrenzt und definieren sich als unnütz. Ihre Gruppenbeziehungen sind nur fragmentarisch, sie suchen zwar die Treffpunkte auf, bemühen sich jedoch nicht um beständige Kontakte. Solche Kids haben psychische Erkrankungen oder entwickeln sie. Folge dieses Prozesses ist eine Vernachlässigung des Äußeren, exzessiver Drogenkonsum bis hin zur Selbsttötung.

Janett: "Wenn du gewohnt bist, auf der Straße zu sein, ist'n Zuhause wie ein Knast. Ich habe immer Adressen dabei, hier, Obdachlosenhilfe, Übernachtungsstation, alles da. ... Neulich war so'n Tag, wo ich einen Absturz hatte. Mit 'nem Freund, der ist 14. War der weggetreten, hab´ ich auf ihn aufgepaßt. War ich breit, hat der auf mich aufgepaßt. Da weißt du, was Freundschaft ist. ... Torsten, mein Freund, der ist auf Methadon und säuft auch, bei dem schlaf´ ich jetzt oft. Der hat mir neulich einen Heiratsantrag gemacht. Ich hab´ "ja" gesagt. Aber eigentlich glaub´ ich nicht richtig daran. Ein anderes Leben - so ´ne Gedanken hab´ ich schon manchmal. Aber zehn Minuten später ist allet wieder vergessen. Ich bin ja lieber bei den Alkis als bei den Junkies. Bei den Junkies hab´ ich immer Angst, daß ich mal abrutsche... Alkohol ist ja ne legale Droge. Ein paar mal hab´ ich schon Entzug probiert, einmal freiwillig und zweimal gerichtlich. Mein Vater hat gesponnen und gesagt, ich bin tablettenabhängig, alkoholabhängig, bin suizidgefährdet. Dann ist er zum Richter gegangen. Ich bin abgehauen" (Der Spiegel 52/1997, S. 106).

2.7. Abhängigkeit

Die Gruppen/ Kids, die entweder schon regelmäßig Drogen nehmen oder sehr schnell mit harten Drogen (Heroin, Kokain, Crack) in Berührung kommen. Diese Kids definieren sich vorrangig über ihren Drogenkonsum. Abhängigkeit, Prostitution und Verelendung folgen scheinbar zwangsläufig.

Cool sind sie, die Jungs mit dem Don-Juan-Gehabe, den Goldkettchen und den weißen Jeans. Charmante junge Männer, ... (die) den Mädchen gönnerhaft das Einmaleins des Bahnhofs erklären. "Die Typen ziehen sie rein, die tun nur so als wenn sie an den Mädchen interessiert wären"... Wer von den zwanzig bis dreißig Jugendlichen, denen der Hauptbahnhof fast ein Zuhause ist, erst einmal auf den Babystrich am nahen Steindamm landet und anschaffen geht, wird für Hilfe nahezu unerreichbar. Wie Jenny. Die dürre Siebzehnjährige drückt sich im Eingang der Wandelhalle rum, ihr jugendliches Gesicht verborgen unter viel Make-up. Heroin läßt die Mädchen abmagern, sie hören auf zu essen, überhaupt kümmern sie sich nicht mehr um sich (die tageszeitung 21./22.11.1998).

Das Leben aller Straßenkinder wird von der Sicherung des täglichen Überlebens geprägt. Dementsprechend ähnelt sich auch der Tagesablauf, unabhängig davon, ob sie von Bettelei, Prostitution oder Diebstahl leben. Es ist ein Leben voller Stress: sie müssen sich das Geld für den täglichen Unterhalt besorgen, ihre Übernachtungsmöglichkeiten sind immer unsicher, selbst bei schwerwiegenden Erkrankungen kann es sein, dass sie nicht behandelt werden (ihnen fehlt der Krankenschein), sie leben in Zufallsgemeinschaften, die für Störungen anfällig sind und faktisch in der Illegalität sind. Aus einem solchem Dasein heraus Perspektiven für ein gesellschaftlich anerkanntes Leben zu entwickelt und zu realisieren nimmt mit der Verweildauer auf der Straße rapide ab. Dabei beinhaltet die Zukunftsplanung der Straßenkinder eigentlich sehr bürgerliche Vorstellungen: sie erhoffen sich einen Schulabschluss, eine feste anerkannte Arbeit, eine eigene Wohnung und dann die Gründung einer Familie. In ihre Herkunftsfamilie möchten sie nicht zurück.

3. Jugendhilfe

Repressive Maßnahmen gegen die Straßenkinder von Seiten des Jugendamts haben durch das KJHG, aber auch durch Pluralisierungs- und Individualisierungstendenzen, in den 1990erJahren abgenommen. Heime und Wohngruppen sind dadurch gerade für diese Zielgruppe attraktiver geworden. Fremdplatzierungen werden aber nur dann vorgenommen, wenn dies gewünscht wird und andere ambulante und/oder familienstützende Maßnahmen aussichtslos erscheinen. In der Karriere der Straßenkinder sieht diese Praxis wie folgt aus: Sie sind meist aus der Familie geflüchtet und sie werden von den Behörden immer wieder nach Hause geschickt und nicht fremdplatziert. Erneutes Abhauen begünstigt dann den Einstieg in eine Straßenkarriere.

3.1. Vor der Straßenkarriere

In der Studie des DJI (1995, S. 31) wird daraufhin gewiesen, dass die Kinder und Jugendlichen, die Hilfeangebote (Notübernachtungen, Beratungsstellen etc.) aufsuchen, häufig ausgeprägte Jugendhilfe- bzw. Heimerfahrung haben. In dieser Studie (S. 134 ff) werden drei wesentliche Gründe für den Wechsel von einer Jugendhilfekarriere zu einer Straßenkarriere genannt:

  • Die Ausgrenzung von zu schwierigen Kindern und Jugendlichen aus den Einrichtungen.
  • Kinder und Jugendliche, die aus psychiatrischer Therapie in ein Heim wechseln, erhalten dort nicht mehr die notwendige spezifische Behandlung.
  • Formale und institutionelle Unsicherheiten und Gründe in der Hilfeplanung und bei der Abklärung der erzieherischen Erfordernissen und Möglichkeiten, die zu immer neuen Einrichtungswechseln und schließlich auf die Straße führen.

3.2. Während des Lebens auf der Straße

  • Häufig müssen die Straßenkinder solange auf die Aufnahme in eine Wohngruppe warten, bis sie selbst die Motivation dafür verloren haben, oder aufgrund ihres Drogenkonsums oder anderer Regelverstöße in Heimen und Wohngruppen nicht mehr tolerierbar sind. Das Drohpotential der Jugendhilfe scheint gerade bei diesen Kindern und Jugendlichen angesichts der Alternative Straße zu verpuffen.
  • Es fehlt weiterhin an individuell gestalteten Hilfen, die die vorangegangene Sozialisationserfahrungen berücksichtigen. In den heutigen Strukturen erhalten nur die Straßenkinder wirkliche Hilfen, die durchsetzungsfähig sind und vehement ihr Anliegen vertreten.
  • Die Jugendämter in den Ballungsgebieten sehen sich häufig nicht in der Lage, finanzielle Hilfen zu übernehmen, insbesondere dann nicht, wenn die Kids aus einem Wohnort stammen, der nicht zu ihrem Zuständigkeitsgebiet gehört.

Auch die Studie des DJI stellt die Hilfeangebote als unzureichend dar: "Die Kooperation mit den für die Kids zuständigen Jugendämtern und Sozialdiensten läuft oft so schlecht und schleppend, daß den eigentlich ausstiegswilligen Jugendlichen ... dann doch der Verbleib in der Szene 'sicherer' erscheint. Für diese mangelnde Kooperation wurden einerseits Unwissenheit und Unwillen seitens der Zuständigen in der von der aktuellen Lebenswelt Straße viel zu weit entfernten Sozialbürokratie verantwortlich gemacht, andererseits die Langwierigkeit der Prozeduren der Hilfeplanung und die Hochschwelligkeit von Aufnahmeverfahren in stationäre Angebote der Jugend- und Berufshilfe" (DJI 1995, S. 147).

Britten (1995, S. 174 ff) informierte sich bei den Hilfeeinrichtungen für Straßenkinder in Berlin über die Praxis. Der Kinder- und Jugendnotdienst ist eine Anlaufstelle in akuter Not. Wie es mit den Kids nach der Aufnahme weitergeht, hängt von weiterführenden Einrichtungen -sofern es die gibt- ab. Stadtfremde Kinder und Jugendliche werden zurück in ihre Heimatstädte und -gemeinden geschickt, zudem wird das dortige Jugendamt benachrichtigt. Obwohl diese Anlaufstelle Tag und Nacht für die Minderjährigen geöffnet ist, suchen die wenigsten (selbst in akuten Notsituationen) das Hilfeangebot freiwillig auf. Das größte Problem ist, an die Straßenkinder heranzukommen. Um einen ersten Kontakt herzustellen unterhalten einige Einrichtungen sogenannte Mobil-Dienste, die eine notdürftige Versorgung (Kleidung, Lebensmittel, ärztliche Behandlung) an den Szenetreffpunkten anbieten. Eine andere Möglichkeit Zugang zu den Kids zu bekommen, ist Streetwork.

Die Minderjährigen, die sich entschließen Hilfen anzunehmen, werden in sozialpädagogisch betreuten Übergangswohngruppen untergebracht. Dort können sie bis zu einem halben Jahr wohnen, und danach in angegliederte Wohnprojekte umziehen. Diese Übergangseinrichtungen werden häufig von den Kids umfunktioniert. Sie lassen es sich eine Weile gut gehen, besonders im Winter, nehmen mit was sie bekommen können, und verschwinden wieder. Da an ihr Verhalten keinerlei Forderung gestellt wird, nehmen sie eine Konsumentenrolle ein und nutzen die Einrichtung aus, wo es eben geht.

Meines Erachtens verdeutlicht die Beschreibung des Hilfesystem von Britten vorrangig zweit Ebenen der Beziehung Jugendhilfe - Straßenkinder.

Einerseits wird eine immer spezifischere Hilfehierarchie (Streetwork, Kinder- und Jugendnotdienst, Übergangswohnungen, Wohnprojekte) installiert, die, selbst wenn sie gut vernetzt ist, mit unterschiedlichen sozialpädagogischen und/oder therapeutischen Ansätzen und Helfenden daherkommt. Straßenkinder haben aber vorrangig Beziehungs- und Bindungsdefizite. Daher müssten die Hilfen neben einer Grundversorgung kontinuierliche stabilisierende Beziehungsangebote beinhalten. Eine derart differenzierte Hilfehierarchie kann diese notwendige Beziehungs- und Bindungsarbeit nicht leisten.

Andererseits benötigen die Minderjährigen keinen Freiraum (Übergangswohnungen) in dem sie tun und lassen können was sie möchten, sondern verlässliche Strukturen und Grenzen im Hilfesystem. Natürlich müssen diese die momentane Lebenswelt der Kids berücksichtigen. Da aber in der familialen Sozialisation diese Kinder und Jugendlichen und ihre Bedürfnisse nicht ernst genommen worden sind, müssen Hilfen auch Aushandlungsprozesse initiieren. Ein verständliches und kontrolliertes Regelsystem vermittelt zudem Verhaltenssicherheit und reduziert Ängste.

Eine Jugendhilfe, die nicht in der Lage ist, die Bedürfnisse und Fähigkeiten der Straßenkinder aufzugreifen und das Individuum in den Mittelpunkt des Handelns zu stellen, trägt eher zur Verfestigung des abweichenden Verhaltens bei.

Literatur

Britten, U. 1995: Abgehauen. Wie Deutschlands Straßenkinder leben. Bamberg

Der Spiegel 44/1995: "Keinen Bock, 30 zu werden". Jugendliche Ausreißer über ihr Leben zwischen Abbruchhäusern und Mülltonnen.

Der Spiegel 52/1997: "Nachts bleib´ ich lieber wach". Das Berliner Straßenkind Janett über sein Leben ohne Wohnung.

die tageszeitung vom 09.03.1996: Und dann ist es Abend.

die tageszeitung vom 21./22.11.1998: Endstation Hamburg Hauptbahnhof

DJI Projektgruppe "Straßenkarrieren von Kindern und Jugendlichen" 1995: "Straßenkinder" - Annäherungen an ein soziales Phänomen (DJI-Materialien). München/ Leipzig

Möller, B./ Radloff, B. 1998: Kooperationsbezüge und Vernetzungsstrukturen einer lebensweltorientierten Jugendhilfepraxis für "Straßenkinder". In: Hansbauer, P. (Hg.): Kinder und Jugendliche auf der Straße. Münster

Permien, H./ Zink, G. 1996: Straßenkinder in Deutschland - der Hauptbahnhof als Endstation? In: KjuG 2/96

ZDF 13.08.2002: Nur nich' nach Hause. Ein Film in der Reihe 37 Grad.

Autorin

Dr. Kathrin Macke
Edemisser Dorfstr. 3
37574 Einbeck

Quelle

Aus: gilde rundbrief der Gilde Soziale Arbeit - GISA - 2003, 57. Jahrgang, Heft 1, S. 41-48. Eingestellt am 27.01.2004, überprüft im März 2015