Quartiermanagement

Wolfgang Hinte

Aktivierende Arbeit im Wohnquartier

Zahlreiche Inhalte und Prinzipien aus der Gemeinwesenarbeit (GWA) finden sich mittlerweile auch in Bereichen außerhalb der sozialen Arbeit, insbesondere in integrierten Konzepten der Stadt(teil)entwicklung. So werden etwa im Kontext von Stadtentwicklungsprogrammen geradezu inflationär, terminologisch unscharf und methodisch irgendwo angesiedelt zwischen Engagement und Chaos Erfahrungen und Methoden aus der GWA bzw. der Stadtteilbezogenen Sozialen Arbeit (Fürst/ Hinte 2014) diskutiert und praktiziert. Sicherlich trifft es zu, dass GWA "ihre Einwirkungschancen auf die Stadtplanung weitgehend verschlafen" (Oelschlägel 2000, S. 590) hat, und zwar insbesondere wegen ihrer "Beschränkung auf soziale Arbeit" (ebd.), aber dennoch wurden insbesondere die Stadtplaner recht fündig bei ihrem hilfesuchenden Blick auf die aktivierenden Spielarten sozialer Arbeit und nutzten diese - in der Regel, ohne das genauer kenntlich zu machen (s. etwa Froessler 1994; positive Beispiele: Grimm 2004; Senatsverwaltung für Stadtentwicklung Berlin 2009) - als Bausteine für Konzepte zur integrierten Gestaltung von Wohnquartieren. Dabei fällt ein enormer Wildwuchs an Begrifflichkeiten, unterschiedlicher Praxis, gleichen Bezeichnungen für verschiedene Dinge usw. auf. So wird immer wieder etwa die bloße Anwendung bestimmter Methoden, die die Beteiligung von Bürgern unterstützen (Planungszelle, Stadtteil-Workshops, Bürgerversammlungen usw.), proklamiert als GWA. Ähnliches gilt auch für die Durchführung von Einzelprojekten, etwa der Errichtung eines Spielplatzes unter der Beteiligung von Kindern oder einer Begrünungsaktion unter Beteiligung von Bewohnern: Dies sei - so ist vielerorts der Sprachgebrauch - Gemeinwesenarbeit oder (wahlweise) Sozialraumorientierte Arbeit. Um das klarzustellen: Stadtteil-Arbeit in der Tradition von GWA bezeichnet einen projekt- und themenunspezifischen Prozess einer (in der Regel) mehrjährigen Aktivierung der Wohnbevölkerung, der zwar einzelne Leuchtturm-Projekte nicht ausschließt, sich jedoch vornehmlich über eine Vielzahl kleinerer Aktivierungsaktionen darauf richtet, anhand direkt geäußerter und durchaus häufig wechselnder Interessen der Wohnbevölkerung gleichsam eine "Grundmobilisierung" eines Wohnquartiers zu bewirken, die dann den Humus für größere Einzelprojekte darstellt. Die Konzentration auf Einzelprojekte ohne diese grundständige Mobilisierung gleicht eher einer "Aktivierung ohne Unterleib", die in der Regel keine nachhaltigen Wirkungen auf das "unsichtbare Gemeinwesen", also auf das soziale Klima eines Wohnquartiers sowie den alltäglichen Umgang der Menschen untereinander zeitigt. Isolierte Einzelprojekte bleiben oberflächlich, sie schaffen allenfalls vorzeigbare materielle Veränderungen (was nicht zu verachten ist), doch diese bleiben für den Stadtteil eher fremdkörperhaft, wenn sie nicht unterfüttert sind durch eine systematisch angelegte Aktivierungsarbeit.

"Quartiermanagement" dagegen bezeichnet den gesamten, sektorenübergreifenden Prozess der Gestaltung von Wohnquartieren, der auf drei miteinander verschränkten Aktionsebenen abläuft (s. dazu Grimm/ Hinte/ Litges 2004):

  1. Stadtteilarbeit/GWA - zur projektunspezifischen Aktivierung der Wohnbevölkerung, zur Begleitung von Gruppen und Initiativen, zur Vernetzung von formellen und informellen Ressourcen in einem Quartier oder auch zur Leitung eines Stadtteilbüros. Kernstück der Tätigkeit auf dieser Ebene ist die Aktivierung der Wohnbevölkerung. Dieser gern gebrauchte Begriff der Aktivierung führt indes leicht in die Irre. Er suggeriert nämlich, Menschen seien nicht aktiv und müssten erst durch eine professionelle Motivationsinstanz zu irgendwelchen Tätigkeiten angeregt werden. Doch tatsächlich sind Menschen in einem Wohnquartier auf vielfältige Weise aktiv. Sie feiern Feste, sie regeln den Krach im Treppenhaus, sie zerstören Telefonzellen, waschen ihre Autos, schlagen nicht nur die Zeit, sondern sich gelegentlich auch untereinander tot oder organisieren den lokalen Drogenhandel und vertreiben asylsuchende Ausländer. Menschen sind also durchaus aktiv, jedoch nicht auf die Art und Weise, wie sich Professionelle das vorstellen, die von einer geordneten Basisdemokratie und dem damit kompatiblen artikulationsfähigen Bürgertum träumen. Der klassische Aktivierungsbegriff beruht auf einer bürgerlichen, von listiger Pädagogik geprägten Philosophie, auf deren Grundlage man ein Bild von einem wünschenswerten Menschen konstruiert, den es über saubere methodische Verfahren zu schaffen gilt. Schon immer versuchten Motivationstechnologen die Menschen, vornehmlich aber Kinder und Jugendliche in Schulen, zu angeblich sinnvollen Taten zu motivieren, die sie als emanzipierte Individuen ausweisen sollten, die indes den Kids so was von egal waren, daß sie die motivationsbeflissene Pädagogenschaft möglichst ignorierten. Verkannt wird dabei, dass es im Grunde darum geht, Motivation bei Menschen zu suchen, also an vorhandene Interessen, Aktivitäten und Bedürfnislagen anzuknüpfen und diese für das Zusammenleben im Gemeinwesen nutzbar zu machen. Denn Motivation kann nicht von außen "gemacht" werden, sie ist vorhanden, und die Erfahrung in zahlreichen Projekten zeigt, dass Menschen sich am ehesten um Kristallisationspunkte und Themen herum organisieren, die mit Betroffenheit oder Neugierde besetzt, naheliegend, anschaulich, greifbar und erfolgversprechend sind.
    Zunächst geht es also darum, herauszufinden, in welchen Bereichen die Menschen überhaupt schon aktiv sind. Es geht also um die Suche nach den Themen im Stadtteil, nach den Dingen, die die Menschen beschäftigen, über die sie sich aufregen, über die sie sich freuen, die "im Gespräch" sind oder die Volksseele zum Kochen bringen. Diese Themen liegen nur selten auf der Straße, häufiger sind sie verborgen, gelegentlich nur relevant für kleinere lokale Einheiten oder bestimmte Bevölkerungsgruppen, sie werden nicht immer eindeutig benannt und konturieren sich bisweilen erst im Laufe zahlreicher Gespräche oder anderer Zugangsformen. In diesem Zusammenhang erweist sich auch der allseits geschätzte sozialarbeiterische Merksatz: "Die Menschen da abholen, wo sie stehen" als trickreich gelegte Pädagogenfalle: Zwar geht es darum, dort anwesend zu sein, "wo die Menschen stehen", doch wer sie dort umgehend wieder abholen will, respektiert eben nicht ihre Eigenwilligkeit, ihre Art zu leben und ihre je individuelle Entscheidung, ihr Leben zu gestalten. Es geht nicht darum, die Menschen abzuholen, sondern mit ihnen gemeinsam eine Lebenswelt zu gestalten, die von den Menschen selbst als unzumutbar, erdrückend, einengend oder anregungsarm empfunden wird. Dass Menschen dabei eine Menge lernen, sich verändern, sich persönlich weiterentwickeln und ihr Verhaltensrepertoire erweitern, ist erfreulich; es handelt sich jedoch in der GWA nicht um gesteuerte Prozesse, die dazu dienen, Menschen zu verändern, sondern um vielschichtige Interventionen, die zum Ziel haben, durch die Gestaltung von Lebenswelten zu mehr Gerechtigkeit in Wohnquartieren beizutragen, und das unter aktiver Mithilfe der dort lebenden Menschen.

  2. Intermediäre Instanzen - als Bindeglied zwischen der Lebenswelt im Stadtteil und der nach Sektoren geordneten Bürokratie, Institutionen und Unternehmen zur Entwicklung spezifischer Einzelprojekte und zur systematischen Zusammenführung von Geld, Menschen, Bedarfen und Ideen. Intermediäre kennen die Pfade in Politik und Verwaltung und beschaffen sich nach Bedarf Kenntnisse etwa in Wohnungs- oder Beschäftigungspolitik, lokaler Ökonomie sowie den laufenden Bemühungen zur Verwaltungsreform. Sie sind aber auch präsent im Stadtteil, sie fragen respektvoll nach Betroffenheit, Interessen und Ärgernissen der Menschen und organisieren immer wieder Dialoge (gelegentlich auch recht konflikthafte) innerhalb der Lebenswelt, zwischen Lebenswelt und Bürokratie sowie auch innerhalb der Bürokratie. Dabei gibt es weder "die Verwaltung" noch "das Quartier", sondern sehr komplexe, nicht immer durchschaubare, irgendwie verwobene Interessen innerhalb einer Lebenswelt: Ein Stadtteil ist eine nur lose verkoppelte Anarchie. Ein Stadtteil als Ganzes artikuliert sich nicht, sondern vielfältige Interessen zeigen sich auf sehr unterschiedlichen Wegen, die es aufeinander abzustimmen oder zumindest für Klarheit zu sorgen gilt. Auch dies ist im Stadtteil nicht anders als in der Verwaltung. Oft geht es eher darum, die zum Teil widerstreitenden Interessen zu benennen, diskussionsfähig zu machen, die Menschen an einen Tisch zu bringen, ohne dass sie aufeinander einschlagen: Kommunikation als Grundlage einer zivilen Gesellschaft zur Entwicklung und Klärung von Regeln, Ideen, Bedeutungen und Gesetzen (s. dazu Luhmann 1997). Intermediäre Instanzen sind in ihrer Funktion und Wirkungsweise oft dargestellt worden (etwa Fehren 2008; Hinte 2011).

  3. Gebietsbeauftragte innerhalb der Verwaltung - zur Bündelung der Ressourcen innerhalb der Kommunalverwaltung etwa durch begrenzte Zugriffsmöglichkeiten auf andere Ressorts, aber auch zur Federführung bei Einzelprojekten bis hin zum Management komplexerer längerfristiger Programme. Über diese Aktionsebene werden aktiv(ierte) Bewohner, Verwaltungsressourcen, lokale und regionale Marktstrukturen sowie öffentliche Programme aufeinander bezogen, abgestimmt und gebündelt sowie die jeweilige Stadtteilentwicklung in die gesamtstädtische Politik eingebunden.

Dass es zur Ausübung dieser Tätigkeiten breitgefächerter kommunikativer, organisatorischer und methodischer Kompetenzen bedarf, liegt auf der Hand: "Management mit Charme" (Hinte 1997) kann nur von hochqualifiziertem Personal betrieben werden, mit dessen Qualität so manches Projekt steht oder fällt.

Quartiermanagement ist eine kommunale Strategie zur Verbesserung der Lebensbedingungen, insbesondere in benachteiligten Wohnquartieren, und zwar vorrangig durch Aktivierung und Organisation der materiellen und personellen Ressourcen eines Stadtteils. Es muss dauerhaft installiert werden, damit ein Klima wächst, in dem Beteiligung gewünscht und selbstverständlich ist. Beteiligung als gutgemeinte Überfall-Aktion erweckt den Eindruck, dass lediglich einmal im Jahr Aktivierung angesagt ist und führt nicht zu einem dauerhaften Ermutigungs-Klima. Bürgerbeteiligung braucht Struktur, aber sie kann nicht verordnet werden, sie muss sich im Quartier entwickeln und zwar auch durch öffentliche Unterstützung. Die Umsetzung eines integrierten Handlungskonzepts ist auf ein Planungs- und Organisationsmodell angewiesen, das nicht linear von "oben" oder "unten" dominiert wird. Es ist angelegt auf die optimale Nutzung der Fähigkeiten und Mittel aller Beteiligten und auf einen kooperativen Austausch sowohl derer, die planen, Geld vergeben, Maßnahmen einleiten oder investieren als auch derer, die im Stadtteil wohnen, Freizeit verbringen oder professionell tätig sind. Hilfreich sind flexible Strukturen, die den AkteurInnen viel Spielraum lassen und der Eigenwilligkeit der Menschen und der Dynamik der Prozesse gerecht werden. Problematisch sind komplizierte Verfahren, protzige Institutionen im Stadtteil oder klassische Bürgervereine: tendenziell grenzen sie aus oder erschlagen Aktivität. Situativ gestaltete, lebensweltangemessene, flexible und gelegentlich etwas anarchisch anmutende Strukturen lassen Raum für Unvorhergesehenes und fördern Kreativität - sie müssen indes so beschaffen sein, dass sie an Verwaltungshandeln andocken können. Dies leistet ein klug gesteuertes Quartiermanagement mit Akteuren auf den drei o.g. Aktionsebenen, die mit hoher Autonomie auf der Grundlage stabiler, verlässlicher, fairer und vertrauensvoller Beziehungen im Stadtteil und in der Verwaltung agieren.

Dazu bedarf es einer Mischung geregelter und ungeregelter Formen des Austausches, bei der sich die Beteiligten wechselseitig anregen, informieren, Beschlüsse fassen und Vorhaben durchführen. Dem öffentlichen Träger obliegt dabei die "Regiekompetenz": er verfügt über einen großen Teil der Ressourcen und kann aufgrund seiner breiten Zuständigkeit Arrangements schaffen, in denen die Akteure dann ihren Part selbsttätig spielen. Er darf jedoch nicht anordnen, über die Köpfe der anderen Beteiligten hinweg planen oder bestimmte Wege (etwa über bestimmte Ämter, Firmen oder politische Gremien) einseitig bevorzugen.

Und noch eine terminologische Klarstellung: "Bürgerschaftliches Engagement" kann durchaus eine Folge professioneller Tätigkeit sein, es kann sich aber auch gleichsam "selbstaktiv" oder angeregt durch Programme oder Aufrufe entwickeln. Insofern ist bürgerschaftliches Engagement eine von Bürgern ausgeübte Tätigkeit, die sie nicht im Rahmen eines bezahlten oder gar tarifvertraglich gesicherten Arbeitsverhältnisses ausüben. Natürlich entsteht bürgerschaftliches Engagement nicht zufällig, der Begriff ist tendenziell gebunden an ohnehin arktikulationsfähige Bevölkerungsgruppen, deren Art sich zu äußern bzw. sich tätig in das Gemeinwesen einzubringen durchaus kompatibel ist mit den klassischen institutionell verbrieften Beteiligungsmöglichkeiten. In benachteiligten Quartieren dagegen hat man es nur selten mit der emanzipierten Mitte zu tun, also dem zur Durchschnittsgröße hochgerechneten Mittelschichtsbürger, der sich bürgerschaftlich engagiert im Sportverein, Pfarrgemeinderat und beim Stadtteilfest, sondern eher mit den benachteiligten Rändern dieser Gesellschaft, also etwa dem Stammtischbruder, der eine leidenschaftliche Abneigung hegt gegen die Regierung, Steuern, Schwule, Asylanten und selbstbewusste Frauen. Auch letzterer neigt gelegentlich durchaus dazu, sich bürgerschaftlich zu engagieren, aber eben nicht auf die Art und Weise, wie das in den Förderprogrammen von Bund und Land vorgesehen ist. Wer Telefonzellen zerschlägt, Asylanten beschimpft und gegen Ausländer hetzt, ist durchaus wirkungsvoll aktiv, taucht aber auf keiner Erfolgsliste in einer Broschüre für "bürgerschaftliches Engagement" auf. Wir dürfen somit bürgerschaftliches Engagement nicht verwechseln mit aktivierender Tätigkeit im Rahmen von Quartiermanagement.

Literatur

Fehren, O.: Wer organisiert das Gemeinwesen? Berlin 2008

Froessler, R. u.a. (Hrsg.): Lokale Partnerschaften. Basel, Boston, Berlin 1994

Fürst, R./Hinte, W. (Hrsg.): Sozialraumorientierung. Ein Studienbuch zu fachlichen, institutionellen und finanziellen Aspekten. Wien 2014

Grimm, G.: Stadtentwicklung und Quartiermanagement. Essen 2004

Grimm, G./Hinte, W./Litges, G.: Quartiermanagement. Berlin 2004

Hinte, W.: Sollen Sozialarbeiter hexen? In: Hinte, W. et al.: Grundlagen und Standards der Gemeinwesenarbeit. München 2011, S. 163-175

Hinte, W.: Management mit Charme. In: Ries, H. et al. (Hrsg.): Hoffnung Gemeinwesen. Neuwied, Berlin 1997

Hinte, W./Lüttringhaus, M./Oelschlägel, D.: Grundlagen und Standards der Gemeinwesenarbeit. München, 3. Aufl. 2011

Luhmann, N.: Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2 Bände. Frankfurt a.M. 1997

Oelschlägel, D.: Kritischer Rückblick auf die Gemeinwesenarbeit (GWA) in der Bundesrepublik Deutschland. Zeitschrift für Sozialreform 2000, 46 (7), S. 583-592

Senatsverwaltung für Stadtentwicklung Berlin (Hrsg.): Handbuch zur Sozialraumorientierung. Berlin 2009

Hinweis

Eingestellt am 03.11.2003, überprüft und aktualisiert im Mai 2015