Wirklichkeit und Wahrheit. Warum sich Jugendhilfe und Justiz so oft missverstehen

Thomas Mörsberger

Das Verhältnis zwischen Jugendhilfe und Justiz gilt allenthalben als mehr oder weniger schwierig, je nach Temperament und Vorurteilspflege der Akteure. Selbst wenn die alltägliche Kooperation gut funktioniert, ist man auf der Hut. Werden Lobeshymnen auf Gegenseitigkeit angestimmt, besteht in der Regel der begründete Verdacht, dass es nicht mit rechten Dingen zugeht. Geht man sich aber zur Wahrung des Ehrlichkeitsanspruchs herzlich gern aus dem Weg, kann sich das in Form negativer Konsequenzen bei Dritten auswirken, etwa in schwierigen Einzelfällen, wo Vertrauen und gute Kommunikation die Basis für richtiges Vorgehen bilden. Ist die Beziehung aktuell jedoch tatsächlich gut oder hat sich im Laufe der Zeit wenigstens ein respektvolles Miteinander entwickelt, nützt das nur begrenzte Zeit, fangen nämlich die Schwierigkeiten sofort wieder von vorn an, sobald die Stelleninhaber wechseln.

Was aber sind die Gründe dafür, dass das Verhältnis zwischen Jugendhilfe und Justiz schwierig ist (oder als schwierig gilt)? Ist alles nur eine Frage der (vorhandenen oder nicht vorhandenen) gegenseitigen Sympathien? Oder eine Frage des Maßes an Bequemlichkeit, das man sich wechselseitig zugesteht? Oder der Frustrationstoleranz? Oder ist alles ganz einfach nur eine Frage des Durchsetzungsvermögens? Mithin etwas Menschlich-Allzumenschliches, wie es an jedem Arbeitsplatz vorkommt, in der Familie, letztlich in jeder menschlichen Beziehung?

Ja und Nein. Wenn man sich vor Augen hält, wie verschieden die Aufgaben derer sind, die den beiden Systemen Jugendhilfe und Justiz angehören, die organisatorischen Rahmenbedingungen, die Ausbildung, die Sprache, das Sozialprestige und nicht zuletzt die Bezahlung, dann kann es nicht überraschen, wenn immer wieder Defizite in der Zusammenarbeit festgestellt werden und sich der Eindruck von einem "schwierigen Verhältnis" verstetigt.

Ohnehin mag man diese Schwierigkeiten als völlig normales Phänomen abtun, da in der Begegnung der beiden Systeme nun einmal unterschiedliche Interessen im Spiel sind und schon deshalb Konflikte unausweichlich sind. Aber all dies erklärt noch nicht ausreichend, warum man sich missversteht und insbesondere warum so oft. Versteht man sich miss, also falsch, so mag zwar die Interessenlage eine Rolle spielen. Sie erklärt aber nicht das Entscheidende. Mir scheint jedenfalls, dass die Frage nach dem Warum - soweit ich die Literatur kenne - bislang noch nicht genügend ausgelotet wurde.

Vorbemerkung 1

Man könnte einwenden, dass eine Eingrenzung auf die Beziehung zwischen Jugendhilfe und Justiz zu wenig berücksichtigt, dass es auch in der Beziehung der Jugendhilfe zu anderen Institutionen bzw. Systemen, mit denen sie zu tun hat, immer wieder zu gravierenden Missverständnissen kommt, also zum Beispiel mit der Polizei, der Schule oder der Psychiatrie. Gewiss finden sich bei der Justiz auch ähnliche Vorurteilsstrukturen gegenüber dem Jugendamt wie sie auch ganz allgemein in der Öffentlichkeit festzustellen sind und in den Medien widergespiegelt und verstärkt werden. Ich gehe aber von der Hypothese aus, dass es in der Beziehung zur Justiz doch um etwas Besonderes geht.

Vorbemerkung 2

Wenn ich zum Verhältnis von Jugendhilfe und Justiz Einschätzungen formuliere, dann insbesondere vor dem Hintergrund meiner ganz persönlichen Erfahrungen und Prägungen, nicht zuletzt meiner Ausbildung. Von meiner Ausbildung her bin ich aber Jurist. Das heißt, dass ich in der Betrachtung der Kooperationsprobleme zwischen Jugendhilfe und Justiz vermutlich nicht neutral bin (denn berufspolitisch hat der Juristenstand zur Justiz wohl eine ähnliche Nähe wie der Sozialarbeiter zur Jugendhilfe). Andererseits arbeite ich seit vielen Jahren im "System Jugendhilfe". Justizkollegen würden mich deshalb wohl als "Überläufer" charakterisieren und damit als besonders einseitig oder sogar gefährlich. Aber die Jugendhilfe hat auch schon mal Probleme mit mir. Vielleicht bin ich auf diese Weise doch wenigstens ein bisschen neutral.

Vorbemerkung 3

Meine Einschätzungen beruhen auf "Wessi-Erfahrungen". Ich weiß aber, dass in der DDR zwischen Jugendhilfe und Justiz andere Mechanismen abliefen als im Westen und andere Rahmenbedingungen und Rollenverständnisse zu berücksichtigen waren. Also will ich meine Erfahrungen nicht einfach auf Ostdeutschland übertragen. Inwieweit sich in den vergangenen zehn Jahren dort möglicherweise die Verhältnisse auch in dieser Hinsicht - im Guten wie im Schlechten - an Westgepflogenheiten angeglichen haben, kann ich mangels praktischer, eigener Anschauung nicht beurteilen.

I. Wann Jugendhilfe und Justiz miteinander zu tun haben

Als Kooperationspartner: Bei einer genaueren Betrachtung liegt es nahe zu differenzieren, in welchen Bereichen es aus welchen Anlässen zu entsprechenden Konflikten und eben auch Missverständnissen kommt. Die Situation ist in Scheidungsverfahren anders als bei der Anrufung des Familiengerichts in Fällen des § 1666 BGB, wieder anders bei der Mitwirkung in jugendgerichtlichen Verfahren und auf den ersten Blick auch kaum zu vergleichen mit der Situation, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Jugendhilfe als Zeugen geladen sind, um über ungeklärte Sachverhalte Auskunft zu geben. Missverständnisse gibt es aber auch, wenn die Justiz von der Jugendhilfe andere Initiativen zur Aufklärung von Straftaten erwartet als die Jugendhilfe es für richtig hält.

Last but not least ist es so, dass seit einigen Jahren ein neuer, bis dato kaum bekannter "Berührungspunkt" zwischen Jugendhilfe und Justiz hinzu gekommen ist: Die Jugendhilfe nicht als Kooperationspartner, sondern im wahrsten Sinne des Wortes auf der Anklagebank. So besteht seit den spektakulären Strafverfahren in Osnabrück (1), Dresden (2) und Stuttgart (3) ein hoher Klärungsbedarf hinsichtlich der Frage, ob beziehungsweise unter welchen Voraussetzungen Fachkräfte der Jugendhilfe eine spezifische Garantenstellung haben, welche konkreten Handlungs- (beziehungsweise Garanten-) Pflichten sich jeweils daraus ergeben (können), wie also das strafrechtliche Haftungsrisiko einschätzbar gemacht werden kann. Der konkrete Verlauf dieser Verfahren hat gezeigt, dass es auch hier in vielerlei Hinsicht um tatsächliche oder vermeintliche Missverständnisse zwischen Jugendhilfe und Justiz geht.

Zur tatsächlichen Bedeutung des Themas "Garantenpflicht" allerdings gleich eine Einschätzung: Das Haftungsrisiko ist meines Erachtens eher Mythos als reale Bedrohung (4). Wenn der Begriff "Garantenpflicht" derzeit so inflationär verwendet wird, dann deutet dies eher auf interne und tiefer liegende, grundsätzliche Probleme der Jugendhilfe hin, auf Verunsicherungen, Ungereimtheiten und Konflikte, die über den Einzelfall hinausweisen. Es ist auch noch völlig offen, ob es in der aktuellen Debatte überhaupt um unterschiedliche fachliche Fallbewertungen geht oder nicht vielmehr um (versteckte) ideologische Kontroversen, verbunden mit den allseits üblichen Machtkämpfen und Profilneurosen.

Jedenfalls sollte nüchtern zur Kenntnis genommen werden, dass es bei den genannten Strafverfahren nur am Rande um die Frage von Leistungsqualitäten ging, sondern vielmehr um die Interpretation, was überhaupt in welchen Arbeitsfeldern der Jugendhilfe wessen Aufgabe ist und allenfalls, wie das Anforderungsprofil aussieht beziehungsweise aussehen sollte. Wenn in der Folge der erwähnten Strafverfahren eine Offensive zur Verbesserung der fachlichen Qualität gestartet wird, ist dies begrüßenswert, im Übrigen aber kein pauschales Schuldeingeständnis.

Daraus darf man folgern: Würden die offenen Fragen zur Garantenpflicht einmal klar beantwortet, wäre das zwar eine gute Sache, würde aber die Beziehung zur Justiz nicht verbessern, es sei denn, bei dieser Gelegenheit würde endlich "aufgeräumt" mit den vielfach gepflegten falschen Vorstellungen über die Aufgaben der Jugendhilfe. Die immer wieder festzustellenden Missverständnisse zwischen Jugendhilfe und Justiz ebenso wie "die Entdeckung der Garantenpflicht für die Jugendhilfe" beruhen weniger auf fachlichen Bewertungsunterschieden als vielmehr darauf, dass die grundlegenden Unterschiede (und damit Sichtweisen) der Systeme Jugendhilfe und Justiz zu wenig analysiert und "auf den Punkt" gebracht werden.

Damit komme ich zurück auf den Hinweis, dass man die Konflikte und Missverständnisse je nach Arbeitsfeld und Anlass zunächst einmal differenzieren sollte.

Nur: Ist es tatsächlich so, dass die Missverständnisse je nach Arbeitsfeld so sehr unterschiedlich sind? Gewiss gibt es Besonderheiten. Jedoch ist unübersehbar, dass sich in all den genannten Berührungspunkten zwischen Jugendhilfe und Justiz die Arten der Missverständnisse wiederholen, dass es gemeinsame Elemente gibt, in der Beziehung zur Familiengerichtsbarkeit ebenso wie zur Strafjustiz (5). So jedenfalls meine Behauptung, die ich zu belegen versuchen will.

II. Unterschiede (und Gemeinsamkeiten)

Im Folgenden werde ich deshalb - in Kurzfassung und pointierend - die wichtigsten Unterschiede (und Gemeinsamkeiten) zwischen Jugendhilfe und Justiz beschreiben, und zwar zunächst in Aufgabenstellung und Zielsetzung (1.), werde die jeweiligen Befugnisse vergleichen (2.), ferner die Verschiedenheiten in den Handlungsformen (3.) sowie die Unterschiede in den Rahmenbedingungen (4.), um dann die aus meiner Sicht unabhängig von den konkreten Aufgaben und Besonderheiten bestehenden - aus meiner Sicht: - eigentlichen beziehungsweise wesentlichen Unterschiede zwischen Jugendhilfe und Justiz zu benennen.

1. Die Unterschiede in der Aufgabenstellung und bei den Zielen

Dass Jugendhilfe und Justiz unterschiedliche Aufgaben haben, dürfte keine überraschende Aussage sein. In der Praxis zeigt sich aber, dass es darüber sehr wohl Kontroversen gibt, spätestens dann, wenn es konkret wird und die andere Institution nicht das tut, was man von ihr erwartet, "obwohl es doch ihre Aufgabe wäre". Was aber sind die Aufgaben der Jugendhilfe, insbesondere in Abgrenzung zur Justiz?

Immerhin sind sie gesetzlich beschrieben, nämlich in § 2 SGB VIII/KJHG, sind damit auch deutlich abgegrenzt von den (Leit-) Zielen (die in § 1 beschrieben sind). Allen dort aufgelisteten Aufgaben (die übrigens nicht durch das staatliche Wächteramt i.S. von Artikel 6 Absatz 2 Satz 2 GG ergänzt werden, sondern die eine Konkretisierung dieses Wächteramtes sind!) ist gemein, dass es in erster Linie, wie auch der Name Jugendhilfe besagt, um das Helfen geht, während die Justiz entweder Entscheidungen zu treffen hat (vereinfacht gesagt: im Streit zwischen Privaten die Zivilgerichtsbarkeit, zwischen Bürger und öffentlicher Verwaltung die Verwaltungsgerichte, im Strafverfahren über den Antrag der Strafverfolgungsbehörden) oder einen rechtlichen Status zu klären beziehungsweise anzuordnen, soweit dies gesetzlich erforderlich ist (so kurzgefasst die Aufgaben im Rahmen des FGG). In der Konsequenz heißt das, dass es der Jugendhilfe - im Unterschied zur Justiz - um Effektivität geht (nicht nur temporär, sondern bezogen auf einen Entwicklungsprozess), während sich die Justiz um die Richtigkeit von Entscheidungen kümmern muss, bezogen auf den Augenblick, in dem sie eingeschaltet wird, nur wenig bezogen auf die Wirkung, sondern vielmehr darauf, ob die Vorgaben der Prozessordnung eingehalten beziehungsweise genutzt werden, die Entscheidung möglichst unanfechtbar gemacht wird.

Im Generellen ist man sich da auch einig. Aber im Alltag erlebt man Verschiebungen, verstehen sich einzelne Richter als Helfer, die den weiteren Entwicklungsprozess steuern wollen, während sich manche Sozialarbeiter in Stellungnahmen gerieren, als seien sie die "eigentlichen" Entscheider.

Diese Rollenverschiebungen sind in den unterschiedlichsten Varianten zu beobachten. Solange sie jeweils kritisch reflektiert und kommuniziert werden, ist das in aller Regel auch kein Problem, kann man sie als "unkonventionelles" oder auch "unbürokratisches" Verhalten einordnen (soweit dabei keine gesetzlichen Vorgaben missachtet werden und es nicht zum "Schimanski-Syndrom" kommt). Schwierig wird es aber, wenn aus einer selbstgewählten Rollenverschiebung Zumutungen für andere werden, also etwa die Rolle der helfenden Instanz vereinnahmt wird durch die streitentscheidende oder strafverhängende Instanz, also die eigenständige Rolle und die damit notwendigerweise verbundene Grenzziehung ignoriert wird. Oder die Entscheidungsinstanz hineingezogen wird in undurchschaubare Kumpaneien mit gut meinenden "Sozialingenieuren". Allzu gern wird die Metapher gepflegt, "dass man doch in einem Boot sitze", um die eigenen Prioritäten durchzusetzen. Das Kaschieren der Unterschiedlichkeit in der Aufgabenstellung führt in die Irre, hindert auf Dauer gute Kooperation eher als dass es sie förderte.

Allerdings gilt das nicht nur für den Fall, dass die Unterschiedlichkeit der Aufgaben übersehen wird. Nach meiner Erfahrung wird insbesondere von Seiten der Justiz gern auf die vermeintliche Gemeinsamkeit der (Leit-) Ziele hingewiesen: "Wir wollen doch alle dasselbe, nämlich dass es den betroffenen Kinder gut geht..."

Damit komme ich zurück auf die oben schon angesprochenen Unterschiede zwischen Aufgaben und Zielen. Beides so ausdrücklich zu unterscheiden, mag auf den ersten Blick kleinkariert wirken, wird aber doch spätestens bedeutsam in dem Augenblick, da der Helfer zur Verantwortung gezogen wird, also gegebenenfalls auch durch die Justiz. Wird er nämlich daran gemessen, ob der Klient das gewünschte Ziel erreicht, so wird der Helfer zum permanenten Versager. Er stößt schon an seine Grenzen, wenn er mit der Entscheidungsfreiheit des Klienten konfrontiert ist, mit dessen Widerstandskraft. Einzustehen hat er eben nicht für die Zielerreichung, sondern nur dafür, dass er als Professioneller "nach den Regeln der Kunst" arbeitet, also sorgfältig und fachlich qualifiziert, allerdings immer mit dem Risiko, dass der gewünschte Erfolg nicht eintritt. Dem Arzt wird das allgemein zugestanden, während gegenüber der Jugendhilfe - namentlich im Bereich der sozialen Dienste, Stichwort Kindesmisshandlung - falsche Erwartungen bestehen. Die Folge sind Missverständnisse.

Wie könnte/ sollte dem begegnet werden? Antwort: Indem nur erwartet werden sollte, was erreicht werden kann. Nehmen wir das Stichwort "Kindeswohl". Die Jugendhilfe muss im Falle der Gefährdung mit den ihr möglichen und geeigneten Mitteln darauf hinwirken, dass die Risiken minimiert werden, etwa durch konkrete Unterstützung der originär Verantwortlichen, mit oder ohne Eingriffe in deren Rechtsposition. Für die Justiz aber hat der Begriff "Kindeswohl" eine andere Funktion. Er ist nicht Handlungs-, sondern Entscheidungskriterium.

Wenn also verschiedene Varianten der Entscheidung denkbar sind angesichts einer Vielzahl von unterschiedlichen Interessen, dann ist eben das Kindeswohl vorrangig zu beachten, jedenfalls in den meisten Zusammenhängen, in denen Justiz mit Jugendhilfe zu tun hat. Anders formuliert: Kindeswohl ist (letztlich) für die Jugendhilfe ein Ziel, für die Justiz dagegen eine Meßlatte für die Richtigkeit einer Entscheidung (es muss in ihr erkennbar sein, dass das Gericht sich im Interessenausgleich vorrangig am Kindeswohl orientiert hat. Andernfalls kann die Entscheidung im Instanzenweg aufgehoben werden). Das gilt - wenn auch in anderer Wortwahl, aber mit ähnlicher Zielrichtung - selbst im Jugendstrafverfahren. Da kommt es darauf an, die Entscheidung konsequent so zu gestalten, dass die Gründe für die Entscheidung und die absehbaren Entwicklungsperspektiven benannt werden können, aber (naturgemäß) nur für den Zeitpunkt der Entscheidung. Die Jugendhilfe demgegenüber steht dafür, dass im weiteren Entwicklungsprozess die konkreten Hilfen so angesetzt werden, dass es auch tatsächlich mit dem Jugendlichen in die richtige Richtung geht, also nicht nur für den Augenblick der richterlichen Entscheidung, sondern immer dann, wenn es nötig erscheint.

Es ist auch kein Zufall, dass der Begriff "Kindeswohl" im SGB VIII/KJHG nur selten auftaucht, im Familienrecht aber sehr oft. Nochmals: In der Jugendhilfe ist das Kindeswohl kein Kriterium von Entscheidung, sondern das Ziel, das Ziel dessen, was insgesamt die Angebote der Jugendhilfe und auch die anderen Aufgaben leisten können. Das heißt zum Beispiel auch, dass wir uns überlegen müssen, was die Rolle ist, wenn wir beobachten. Gibt es dazu den entsprechenden Kontrakt? Ist es geklärt, auf welcher Basis gearbeitet wird? In der Justiz dagegen werden keine Kontrakte vorausgesetzt, sondern Kontrakte allenfalls als Ergebnis angestrebt, etwa im Vergleich. Der Zugang der Justiz zu Betroffenen läuft nicht über einen Vertrag mit der Justiz, er läuft aufgrund anderer rechtlicher Grundlagen. Das ist keine Bewertung, sondern nur eine Beschreibung.

Und noch etwas von wegen Helfen und Entscheiden als Abgrenzungsmerkmale: Natürlich trifft man auch in der Jugendhilfe Entscheidungen, macht sich Bilder und trifft Urteile (6) ebenso wie umgekehrt die Justiz in ihren Entscheidungen unter Umständen auf die weitere Entwicklung Bezug nehmen muss, Prognosen trifft. Das ändert aber nichts am Spezifischen. In der Beschreibung der Unterschiede geht es aber um das Spezifische, um die Wesensmerkmale, nicht um Details.

2. Die Unterschiede in den Befugnissen

Auseinandersetzungen und Missverständnisse zwischen Jugendhilfe und Justiz gibt es auch nicht selten, weil die Unterschiedlichkeit der jeweiligen Befugnisse zu wenig berücksichtigt wird. Mit Befugnis wird üblicherweise das Recht beschrieben, unter bestimmten Voraussetzungen in die Rechtsposition eines anderen eingreifen zu dürfen. Im Polizei- und Ordnungsrecht gibt es zwischen Aufgabe und Befugnis seit jeher eine klare Trennung, die seit rund 20 Jahren - maßgeblich beeinflusst durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts - auch für den Sozialrechtsbereich allgemein anerkannt ist, also auch das Verbot, aus Aufgaben ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung auf entsprechende Befugnisse schließen zu dürfen (7).

Früher wurden diese Unterschiede oft kaschiert, obwohl sie gute Gründe hatten. Das klassische Beispiel: Die Grenzen des Verhörs im Strafverfahren einerseits und die Zugriffsmöglichkeit auf in der Beratung preisgegebenen Informationen über den Jugendgerichtshelfer andererseits. Früher wurde unterstellt, die Jugendgerichtshilfe müsse alles mitteilen, was sie erfahren habe. Wozu gab es dann überhaupt noch die Belehrungspflicht des Richters oder Staatsanwaltes, dass der Beschuldigte ihm gegenüber die Aussage verweigern dürfe? Natürlich wusste man dies auch zu rechtfertigen, ging es doch darum, ein möglichst genaues Bild der Persönlichkeit des delinquenten Jugendlichen zu erhalten. Zu seinem Wohle. Da mit den Vorgaben des SGB VIII und der Erkenntnis, dass damit Zugänge zu Jugendlichen erschwert werden, letztlich auch mit den Prinzipien des Strafprozessrechts eine solche Praxis natürlich nicht mehr vereinbar ist, wird in der Praxis heute wohl meist von solchen Vorgehensweisen abgesehen.

An diesem Beispiel aber wird deutlich, dass die Unterschiede in den Befugnissen auch etwas zum Profil der verschiedenen Institutionen besagen. Die Jugendhilfe hat hier sehr viel Freiheit, zu befragen, Informationen zu speichern usw. Zum Ausgleich muss dieser Raum geschützt werden, wie in den §§ 61 ff. SGB VIII/KJHG und allgemein im Sozialdatenschutz geschehen. Anders die Justiz. Sie hat die Pflicht, auf entsprechende Fakten sanktionierend zu reagieren, sozusagen als Justitia mit verbundenen Augen. Datenschutzrechtliche Vorgaben hat sie nur wenige (8). Dafür sind ihre Befugnisse (in den Vorgaben der Verfahrensordnungen) streng begrenzt.

Allerdings wird das in der Öffentlichkeit und auch bei Teilen der Justiz nicht in seiner Funktionalität gesehen. Dort werden die Befugnisgrenzen des Jugendamtes oft wie ein Vorwand interpretiert im Sinne von "mangelnder Konsequenz", von Feigheit, von fehlender Durchsetzungs- oder Überzeugungskraft. Es wird nicht gesehen, dass der Rahmen von Hilfe auch geschützt werden muss, um die Funktionalität von Hilfemöglichkeiten nicht einzuschränken, anders formuliert: die Effektivität der Hilfen.

3. Die Unterschiede in den Handlungsformen

Dass sich die Art und Weise, wie die Justiz mit ihrer "Klientel", also den Klägern, Beklagten, Beschuldigten, Angeklagten und überhaupt Verfahrensbeteiligten umgeht, von der unterscheidet, wie sie in der Jugendhilfe üblich ist, dürfte offenkundig sein. Gleichwohl lohnt eine etwas genauere Betrachtung. So ist nicht ohne Bedeutung, dass das originär Justizielle in der Regel erst beginnt, wenn "der Fall" auf dem Tisch liegt. Auch gilt in aller Regel nur das, was als bewiesen gilt, nicht die Vermutung, der Eindruck oder gar das Gefühl.

Die Jugendhilfe (wie allerdings auch allgemein die Sozialarbeit) setzt demgegenüber auch und gerade in schwierigen Konstellationen im Vorfeld an, muss sich daran messen lassen, ob sie überhaupt den Zugang zur Klientel bekommt, muss mitunter auf der Basis von Vermutungen agieren. Es kann sein, dass Sachverhalte offen bleiben (nicht selten zum Beispiel beim Verdacht auf sexuellen Missbrauch). Beistand zu leisten kann da wichtiger sein als die genaue Kenntnis des Sachverhalts, auch wenn dies sicher in vielen Fällen zu schwierigen Abwägungsentscheidungen führt.

Demgegenüber ist die Justiz gezwungen, Behauptungen und Vermutungen solange nachzugehen, bis sie entweder bewiesen beziehungsweise zugestanden sind oder aber sie praktisch keine Geltung mehr haben (dürfen). Das hat Konsequenzen. Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter müssen sich auch messen lassen in der professionellen Fähigkeit, Probleme zu ahnen, Kontakte aufzubauen, unter Umständen Möglichkeiten des Informationszugangs nicht zu nutzen, wenn dieser Zugang den Kontakt gefährden könnte.

Wie gesagt: In der Justiz liegen die Fälle immer auf dem Tisch, während in der Sozialarbeit die Zugänge erst gesichert werden müssen. Dieses Chrakteristikum wird nicht dadurch verändert, dass es selbstverständlich in der Jugendhilfe Handlungsformen gibt, die den justiziellen ähnlich sind, nämlich im förmlichen Verwaltungsverfahren. Jugendhilfe muss nicht alles wissen, aber verstehen. Die Justiz muss bei Problemen korrekte Entscheidungen fällen, aber die Probleme nicht lösen. Zwar kann und soll die Jugendhilfe nicht unbedingt die Probleme lösen, aber ist doch daran zu messen, dass sie effektiv dazu verhilft, dass sie gelöst werden (können).

4. Die Unterschiede in den Rahmenbedingungen

Natürlich wird die Kommunikation zwischen Jugendhilfe und Justiz auch durch die unterschiedlichen Rahmenbedingungen stark beeinflusst. So tritt der Richter in aller Regel als Allein-Verantwortlicher auf, jedenfalls nicht als Repräsentant einer Verwaltungshierarchie. Verbunden mit dem Privileg der richterlichen Unabhängigkeit ist ihm damit viel Macht gegeben, aber zugleich auch Ohnmacht, denn er ist meist "Solist", hat oft keinen kollegialen Beistand, macht dann aus der Not eine Tugend und entwickelt sich zum unbeugsamen Einzelkämpfer.

Dieses Phänomen gibt es in der Jugendhilfe natürlich ab und zu auch, zumindest im subjektiven Erleben, aber zumindest bei größeren Trägern der Jugendhilfe ist die Situation meist umgekehrt. So wie den einzelnen Mitarbeiter die Hierarchie (potenziell) stützt und damit stärken kann, macht dieselbe Hierarchie ihn auch abhängig, schränkt seine Macht ein. Wer die Klaviatur beherrscht, mag gegenüber der Justiz mit den Varianten spielen, indem er einmal den scheinbar unabhängigen Einzelkämpfer des Jugendamtes mimt oder einmal mit der Amtshierarchie "winkt". Allerdings ist das ein Spiel, das auf Dauer kaum gut ankommt, Glaubwürdigkeit untergräbt.

Ergebnis: Schon die hier beschriebenen Unterschiede machen erklärlich, warum sich Jugendhilfe und Justiz so oft missverstehen. Aber ich meine, dass sich die Unterschiede und damit die Missverständnisse auf einen einzigen grundsätzlichen Wesensunterschied zurückführen lassen, auf übergreifend Charakteristisches, auf das je Eigentliche der Jugendhilfe einerseits und auf das je Eigentliche der Justiz andererseits.

III. Wirklichkeit und Wahrheit

Im Blick auf das Verhältnis zwischen Jugendhilfe und Justiz die Dinge sehr zu abstrahieren und auf Begriffe bringen zu wollen, mag zunächst abgehoben und wenig praxisrelevant erscheinen, vielleicht auch vermessen. Genügt es nicht, die verschiedenen Aufgaben zu beschreiben, die Befugnisse und die anderen eben dargelegten und sicher ergänzungsbedürftigen Aspekte der Verschiedenheit?

Meine Erfahrung sagt mir etwas anderes: Wenn es Probleme im Grundsätzlichen gibt, müssen sie auch vom Grundsätzlichen her aufgerollt werden. Gerade im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Jugendhilfe und Justiz ist das zwar besonders schwierig, aber vielleicht doch einen Versuch wert. Dass dabei Begriffe und Begriffsdefinitionen eine besondere Rolle spielen, kann angesichts der Bedeutung von Begriffen für die menschliche Kommunikation - und damit auch als Ursprung für Missverständnisse - nicht überraschen.

Ich gestalte diesen Versuch als These. Ob sie im klassischen Sinne zu belegen ist, sei dahingestellt. Aber ich halte sie für plausibel und für hilfreich in dem Sinne, dass sich die beiden Systeme im Blick auf diese These besser verstehen und verständigen können. Sicher wird man über den einen oder den anderen Aspekt noch diskutieren müssen. Aber der Stein sei ins Wasser geworfen.

Meine These: Die Wesensunterschiede der beiden Systeme spiegeln sich wider in den Begriffen Wahrheit (für die Justiz) und Wirklichkeit (für die Jugendhilfe).

Eine gewagte These. Je länger ich mich mit dieser These auseinander gesetzt habe, um so mehr hat sie mich überzeugt. Insbesondere meine ich, dass sie viele Detailprobleme erklärbarer und damit handhabbarer macht.

1. Zum Begriff "Wahrheit" als Unterscheidungskriterium

a) Als Unterscheidungskriterium und Charakterisierung der Justiz ausgerechnet den Begriff "Wahrheit" zu bemühen, dürfte auf den ersten Blick überraschend bis irritierend sein. Man wird zum Beispiel einwenden, dass doch wohl für die Justiz zunächst deren "In-Begriff" in Betracht käme, nämlich die "Gerechtigkeit". Ich habe es versucht, aber bin da nicht sehr weit gekommen. Als Unterscheidungskriterium trägt das Gerechtigkeitspostulat kaum, zumal ich mich hier auf Autoritäten der Rechtstheorie und Rechtssoziologie berufen kann, nicht zuletzt auf Niklas Luhmann.

Schaut man sich die Verfahrensprinzipien der Justiz an, gleich welchen Rechtsweg betreffend, geht es doch oftmals nur um formale Gerechtigkeit, um faire Verfahren. Schauen Sie sich die unterschiedlichen Verfahrensprinzipien des Strafprozesses und des Zivilprozesses an: Im Zivilprozess ist die Wahrheit mitunter Fiktion pur: Es gilt das Vorgetragene, soweit es von der Gegenpartei nicht bestritten wird. Wird es bestritten, kommt es zur Beweiserhebung und Beweiswürdigung. Letztlich geht es eben - wie von der Rechtsphilosophie bestätigt - weniger um Gerechtigkeit als vielmehr um möglichst viel Akzeptanz, also um den Rechtsfrieden. Im Zweifel zählt die Beweisbarkeit von Fakten beziehungsweise die Autorität von fachlicher Einschätzung (Rechtsfrieden), nicht die Gerechtigkeit.

Aber um was geht es in diesem Verfahren als Charakteristikum? Um die Wahrheit.

b) Aber Schwierigkeiten ergeben sich auch - zumindest auf den ersten Blick - mit dem Begriff "Wahrheit", denn er ist philosophiegeschichtlich, aber mittlerweile auch im allgemeinen Sprachgebrauch, so "gedehnt", dass er eher für alles und nichts gilt. Er scheint letztlich nur noch ein pathetisches Kürzel zu sein für die nicht sehr überraschende Erfahrung, dass jegliche menschliche Erkenntnismöglichkeit begrenzt ist ("Was ist Wahrheit?"), also eine zentrale Kategorie der Hermeneutik.

Was den allgemeinen Sprachgebrauch angeht, so kann man jedoch feststellen, dass der Begriff der Wahrheit im Alltag, je nach Zusammenhang, sehr wohl auch in einem engeren Sinne verwendet wird, nämlich in eben jenem Sinne, wie er auch in der Justiz gebräuchlich ist, wenn dort von der "Wahrheitsfindung" die Rede ist. Bei der Zeugenbelehrung heißt es nicht von ungefähr, dass es um die Wahrheit gehe, "um nichts als die Wahrheit". Und hier in Berlin liegt es nahe, den legendären Ausspruch von Fritz Teufel zu zitieren: "Wenn´s denn der Wahrheitsfindung dient..." Ich gehe einmal davon aus, dass sich dieser Ausspruch auch gesamtdeutsch herumgesprochen hat.

c) Diese Bedeutung von "Wahrheit" aber, wie sie in der Justiz gängig ist, hat allgemeine sprach- und philosophiegeschichtliche Ursprünge, die sehr aufschlussreich sind im Hinblick auf die Fragen, um die es hier geht, wenn ich von den Wesensunterschieden zwischen Jugendhilfe und Justiz spreche. Bei der Wahrheit geht es traditionell nämlich zunächst um den Aspekt des "Aufdeckens". Auf diese Ursprünge bin ich bei Hartmut von Hentig gestoßen, dem Bielefelder Pädagogen und Altphilologen. Er wies kürzlich in einem Vortrag über Platon auf den Ursprung des griechischen Wortes für Wahrheit hin, die "Aletheia". Anders als im Deutschen (und deshalb mein Ausflug in die Gefilde humanistischer Bildungsgüter) setzt sich dieses griechische Wort zusammen aus einem Stamm, der "das Verborgene" bezeichnet, und dem a (alpha) -, das soviel bedeutet wie "heraus" oder "weg von". Von Hentig übersetzt deshalb den griechischen Begriff für Wahrheit wörtlich mit "das Entborgene" und den Vorgang der Wahrheitssuche mit "Entbergen". Auch Aristoteles sei noch bemüht (auf die Gefahr hin, des "name-dropping" in Sachen klassischer Bildungsideale geziehen zu werden), der vom "Offenbar-Machen" spricht. In anderen klassischen Quellen wird Wahrheit auch beschrieben zum Beispiel als "Eigenschaft, Seiendes zu enthüllen und in der Enthülltheit mitzuteilen" oder als "Einheit von Ausdruck und Bedeutung".

Warum diese lange Ableitung? Sie ahnen es vielleicht. Ich behaupte nämlich, dass dort der Kernpunkt vieler Missverständnisse liegt: Die Justiz will das Verborgene wissen, während sich die Jugendhilfe an anderen Kriterien zu orientieren hat. Aber dazu später mehr. Zunächst nochmals zur Justiz.

2. Das kennzeichnende Symptom: Der Umgang mit Geheimnissen. Und zum Begriff "Wirklichkeit"

Mit der oben dargestellten Bedeutung von Wahrheit als "Entbergung" kommen wir meines Erachtens zu einem wichtigen, auch sehr praxisrelevanten Indikator für das Verhältnis zwischen Jugendhilfe und Justiz, dem Umgang mit persönlichen Geheimnissen. Nochmals: Die Justiz kann - so behaupte ich - nicht wirklich gerecht sein. Sie kann nur dem Rechtsfrieden dienen, indem sie nachvollziehbar möglichst richtig, also optimal entscheidet, und zwar zum erforderlichen Zeitpunkt zu einem begrenzten Thema bei nachvollziehbaren Entscheidungskriterien und mit möglichst klaren Fakten, nur soweit gerecht, wie die Verfahrensvorgaben es zulassen. Das Verfahren wird im entsprechenden engen Rahmen, also als in diesem Sinne zweckorientiert gestaltet. Und die Jugendhilfe? Sie soll hilfreich sein, und zwar effektiv. Da kommt es nicht unbedingt so auf die Wahrheit an, sondern - jetzt mache ich den entscheidenden Sprung - auf die Wirklichkeit.

Wirklichkeit ist zum Beispiel auch, wie die Fakten durch die Betroffenen wahrgenommen werden. Damit liegen zwischen Jugendhilfe und Justiz Welten! Das ist keine Bewertung in gut oder schlecht, sondern das ist die Konsequenz aus der Unterschiedlichkeit der Aufgaben. Die Wirklichkeit ist jedenfalls oft anders als die Wahrheit, die nicht umsonst eine kommunikationstheoretische Kategorie ist. Aber ich will jetzt keinen Ausflug von Kant zu Hegel, zu Watzlawick und Herrn von Foerster, zu den Konstruktivisten, machen. Ich gehe lediglich von der Ursprungsbedeutung des Begriffs "Wirklichkeit" aus, die eben mit "Wirken" beziehungsweise "Wirkung" zu tun hat.

Allerdings existieren da unterschiedliche Bewertungen, je nach Position bzw. Betroffenheit: Geheimnisse können für Klientinnen und Klienten das einzige höchst Persönliche sein, was sie überhaupt noch haben. Viele haben auch das nicht mehr. Andere brüsten sich geradezu damit, dass sie nichts zu verbergen hätten, also die Spießervariante. Tatsache ist aber, dass nicht zuletzt auch über Geheimnisse Kommunikation gesteuert wird, sogar Identität. Geheimnis hat mit Heim und Heimat zu tun, hat zu tun mit der Entwicklung von Selbstbewusstsein. Ich wage sogar, den Begriff des Mysteriums einzubringen, das Mysterium als transzendentaler Wert, der jedem Einzelnen zugehörig ist.

Nehmen wir es praktisch: Ein leitender Mitarbeiter aus dem Justizministerium in Stuttgart sagte mir kürzlich zu diesem Problem: "Oft wissen wir gar nicht, was die Jugendhilfe tut. Wenn wir davon erfahren, finden wir es meist interessant und gut. Aber wir erfahren es nicht. Deshalb hängt letztlich alles vom gegenseitigen Vertrauen ab. Wenn dieses Vertrauen in das, was die Jugendhilfe tut, nicht da ist, dann kommt es zu den unergiebigen Reibereien. Denn bei der Suche nach Fakten blocken die Leute aus der Jugendhilfe dann und der Teufelskreislauf geht los".

Da kann ich es nicht lassen, ein letztes Mal in die Kiste klassischer Bildungswelten zu greifen, indem ich auf Sokrates verweise: Er verstand sich als ein Helfer, ein Helfer bei der Erkenntnisfindung. Als "Maieutiker", als Geburtshelfer im individuell unterschiedlichen Prozess des Gebärens der je unterschiedlichen Erkenntnisse - im Dialog, bei dem er immer gewann, bis ihm der Prozess gemacht wurde. Aber lesen Sie mal nach, was er zur Rechtfertigung gesagt hat, warum er das Urteil - immerhin sein Todesurteil - akzeptiert hat. Er wusste nämlich um die Notwendigkeit des Rechtsfriedens. Aber was Erkenntnis anging, so kennen Sie seinen berühmten Ausspruch, dass er nur wisse, dass er nichts wisse.

Sich an dieser Erkenntnis zu orientieren, könnte - so meine ich jedenfalls - manche Verständigung zwischen Jugendhilfe und Justiz erleichtern. Kurzum, ich denke, wenn der Respekt auf Gegenseitigkeit mehr gelingt, respektiert wird, dass beim einen das Prinzip des Entbergens vorrangig gilt, beim anderen aber das Helfen mit Rücksicht auf die Wirklichkeit der Klientinnen und Klienten, zudem auf die Wirkungen zentriert, dann ist an diesem Punkt schon viel gewonnen.

IV. Aber was heißt das beispielhaft?

Meine Ausgangsthese besagt, dass die Unterscheidung nach Wirklichkeit und Wahrheit dazu beitragen kann, sich zwischen den Systemen besser zu verständigen, Missverständnisse zu vermeiden.

Ich will versuchen, diese These im Folgenden für einzelne Kooperationsfelder beziehungsweise exemplarisch für spezifische Fragestellungen der Praxis zu belegen.

1. Bedeutung der Unterschiedlichkeiten für die Mitwirkung des Jugendamtes in jugendgerichtlichen Verfahren

Für das Jugendstrafrecht dürften diese Unterschiede der Orientierung besonders plastisch sein: Zwar konkurrieren mitunter die beteiligten Instanzen im Wettbewerb darum, wer "richtig" auf die Straffälligkeit von Jugendlichen reagiert. Geht es aber um das Verfahren, um die Erwartungen der Institutionen aneinander, dann kommt der Frage besondere Bedeutung zu, inwieweit es auf die "Wahrheit" ankommt oder auf die "Wirklichkeit". Die Wirklichkeit aber ist - wie gesagt - eine kommunikationstheoretische Größe, entzieht sich des Fremdzugriffs, hat mit "Wirkung" zu tun.

Für die Jugendhilfe kann das bedeuten, dass sie sich im Konfliktfall für die gewünschten Wirkungen entscheiden muss, also unter Umständen gegen die "Entbergung" durch die Justiz. Allerdings ist eben diese Orientierung zugleich eine Verpflichtung für die Jugendhilfe, aber anderer Art. Spielt sie - entgegen der gesetzlichen Rollenzuschreibung - Anwalt, so orientiert sie sich wohl nicht an der Wirklichkeit, weil sie so verhindert, dass der Jugendliche Verantwortung für sich übernimmt, dass er nicht die Wahrheitsfindung behindert, Probleme verharmlost und dies zur Wirkung (!) haben kann, dass der Jugendliche nicht den Weg findet, den er eigentlich sucht (was immer das im Einzelnen bedeuten mag).

Ebenso wenig entspricht es der Aufgabenstellung der Jugendhilfe, wenn sie den Ersatzrichter spielt, weil sie meint, sie könne das richtige Urteilsmaß finden. Oder wenn die Jugendhilfe meint, das "Aufdecken" des Verborgenen sei ihre Sache. Ihre Sache ist es allerdings, ausgehend von der Wirklichkeit des betroffenen Jugendlichen ihm dabei zu helfen, dass er - falls nötig - das in ihm Verborgene selbst für sich entdeckt. Hier überschneiden sich dann sogar Hilfeauftrag und pädagogische Kompetenz (nicht immer in der Jugendhilfe ein zwingender Zusammenhang).

2. Bedeutung der Unterschiedlichkeiten für die Zusammenarbeit mit der Polizei

Hier gilt Ähnliches wie für die Mitwirkung im jugendgerichtlichen Verfahren. Aber nach meiner Erfahrung ist die Polizei nur teilweise identifiziert mit der Orientierung an der Wahrheit, nämlich nur soweit sie Hilfsorgan der Staatsanwaltschaft ist. In ihrer ordnungsbehördlichen - und präventiven - Funktion ist sie sehr wohl offen für Wirkungsaspekte, muss jedoch in ihrer Funktion Grenzen ziehen angesichts des Legalitätsprinzips. Sie ist danach verpflichtet, strafbare Handlungen zu verfolgen, gegebenenfalls an die Staatsanwaltschaft zu melden. Es gibt nicht wenige Polizisten, die an eben dieser - allerdings aus gutem Grund - zwingenden Verpflichtung leiden. Umgekehrt gilt für die Jugendhilfe, dass sie sich konsequent an ihrer Aufgabe orientieren sollte, also nicht den Interventionisten spielt, wenn die öffentliche Ordnung gestört wird, aber auch nicht den Bündnispartner für Jugendliche, die sich über die Grenzen des Verbotenen hinweg setzen.

Nochmals: Das ist kein Votum gegen die Aufgabenstellung der Polizei, sondern nur eine Mahnung an alle Beteiligten, sich an ihrer spezifischen Aufgabe zu orientieren. Ein jeder hat da längst Erfolge vorzuweisen. Und um Missverständnissen vorzubeugen: Natürlich zeitigen "wahrheitsorientierte" Strafverfahren" auch Wirkung, sind nicht nur auf die Aufdeckung der (momentanen) Wahrheit fixiert, aber doch in Abgrenzung zur Jugendhilfe an ihr in erster Linie orientiert - und deshalb oft mit der Jugendhilfe im Konflikt.

3. Zur Notwendigkeit informationeller Abschottung gegenüber der Strafjustiz allgemein

Konflikte mit der Justiz entstehen auch und immer wieder, weil die Jugendhilfe sich im Bestreben nach effektiver Hilfe und der Notwendigkeit, sich den Zugang zu Betroffenen zu sichern, weigert, den Strafverfolgungsbehörden die ihr zur Verfügung stehenden Informationen zur Verfügung zu stellen. Hier bedarf es keiner weiteren Ausführungen, da der Gesetzgeber sich dazu klar positioniert hat (mit der Gewährleistung des Sozialgeheimnisses im Sozialgesetzbuch; § 35 SGB I in Verbindung mit §§ 67 ff. SGB V und §§ 61 ff. SGB VIII/KJHG), obwohl das mitunter höchste Stellen in Politik und Verwaltung noch nicht realisiert haben...

4. Zur Funktion von Stellungnahmen des Jugendamtes

In diesem Zusammenhang die Funktion jugendamtlicher Stellungnahmen anzusprechen, verlangt zunächst eine Differenzierung dieser Stellungnahmen. Inwieweit sie in ihrer Konzeption und fachlichen Orientierung von anderer Stelle bestimmt werden dürfen beziehungsweise können, soll hier nicht weiter vertieft werden. Geht es um die Wahrheitsfindung, geht es in der Regel nicht mehr um eine Aufgabe der Jugendhilfe, soll in diesen Fällen vielmehr genutzt werden, dass sich in diesem System fachliche Kompetenzen sammeln, die bei der Wahrheitsfindung von Bedeutung sein können. Indem sie - in aller Regel - durch den Klienten legitimiert sind, nämlich durch einen Kontrakt - kann das System sich treu bleiben - wirklichkeitsorientiert.

Die Zuordnung von Wirklichkeit (zur Jugendhilfe) und Wahrheit (zur Justiz) als Wesensmerkmale hat auch insofern Bedeutung, als damit Grenzen bestimmbar werden. Vor Jahren war es zum Beispiel noch üblich, dass Jugendämter bei Sorgerechtsregelungen den Familiengerichten mitteilten, dass sie gegen den gemeinsamen Elternvorschlag "keine Einwände" hätten, ohne weitere Begründung. Damit wurden gleich mehrere Systembrüche deutlich: Das Familiengericht hat sich zu beschränken auf belegbare Aussagen, darf sich nicht begnügen mit pauschalen Einschätzungen, ist dem "Entbergen" verpflichtet. Insoweit hätte sie zumindest signalisieren müssen, dass sie solche pauschalen Wertungen "nichts angingen". Aber auch die Jugendhilfe verhält sich bei solch einem Vorgehen prinzipienlos: Was soll es für eine hilfreiche Wirkung haben, wenn man sich positiv über einen Vorschlag äußert, den die Eltern vereinbart haben? Kurzum: Die Jugendhilfe verhielt sich in diesen Fällen anmaßend, allerdings weder wahrheits- noch wirklichkeitsorientiert. Wahrscheinlich wurde schlicht der Klient verwechselt: Man bediente die Richter, weil sie vielleicht entscheidungsunsicher erschienen. Es gab damals Richter, die diese Hilfe gerne angenommen haben.

5. Wahrheit und Wirklichkeit in Verfahren zu § 1666 BGB

Für die Bewertung der Beziehung zwischen Jugendhilfe und Justiz kommt sicherlich den Verfahren zu § 1666 BGB besondere Bedeutung zu. Gerade in diesen Verfahren zeigen sich nämlich die Rollendiffusionen besonders deutlich.

Natürlich ist es zu begrüßen, wenn ein Richter sich nicht nur an formalen Vorgehensweisen orientiert. Aber zum Dilemma wird sein Engagement, wenn er nicht nur zur Entscheidungsfindung die notwendigen "Entbergungen" in den Blick nimmt, sondern den Sozialingenieur spielt. So geschieht es nicht selten, dass sich in ihm derselbe Reflex abspielt, der passiert, wenn sich ein Helfer erstmals mit dramatischen Ereignissen in einer Familie befasst: erst einmal abwarten, ob die Bedrohung anhält. Man sollte Gelegenheit zur Besserung der Lage geben. Nur ist das oft eben der Prozess, der im Kontakt zur Jugendhilfe schon passiert ist. Nicht umsonst hat man dort zunächst gezögert, abgewartet, Bewährung angeboten.

Wird aber dann doch das Gericht angerufen, soll nicht ein zweites Mal dieser Prozess ablaufen, sondern nach der Wahrheit gesucht und entschieden werden. Weil man sich aber an solche Mechanismen gewöhnt hat, entstehen "Spielchen": Da der Richter aus Erfahrung grundsätzlich erst einmal etwas abstreicht von dem, was vorgetragen wird, weil er von den Parteien weiß, dass diese übertreiben, führt das nicht gerade zu vernünftigen Verfahrensweisen.

Wenn dem so ist, muss der Sozialarbeiter des Jugendamtes noch mehr übertreiben, damit er überhaupt die notwendige Entscheidung "bekommt". Aber das wiederum kann ihn in arge Loyalitätskonflikte mit seiner Klientel bringen, die ihn als unfair erleben. Geht er im Verfahren aber kompetent, fair, das heißt auch ressourcenorientiert mit ihr um, riskiert er, dass keine Herausnahme beschlossen wird. Ergebnis: Auf die Klienten wirkt der Richter zuvorkommend, wie ein richtiger Helfer. Während sich der Sozialarbeiter in seinem Auftreten als Warner und Mahner verbraucht. Von wegen Wirklichkeit!

6. Klärung des Profils und Förderung des Selbstbewusstseins; mehr Argumentationssicherheit

Nun könnte der Verdacht aufkommen, dass es bei der Wahrheit um die "harten" Sachen geht, während die Wirklichkeit gewissermaßen der Tummelplatz der Illusionen ist. Das wäre nun wirklich ein neues Missverständnis. Wer letztlich nur nach der Wahrheit zu schauen hat, kann sich eher zurückziehen, weil es nicht mehr um sein Metier geht, zum Beispiel mit der Rechtskraft des Urteils oder der Einstellung des Verfahrens.

Das mit der Wirklichkeit ist komplexer und schwieriger für die Abgrenzung, wann denn nun die Zuständigkeit aufhört. Aber gerade weil dies so ist, begegnet die Jugendhilfe immer wieder dem Ressentiment durch Institutionen, die den Vorteil haben, dass ihre "Erfolge" einfacher beschreibbar sind, die Ziele beschreib- und erreichbar sind.

Wirksamkeit lässt sich schwerer nachweisen als Fallzahlen. Und Spezialisten mit entsprechend begrenzten Aufträgen können sich leicht verschanzen hinter den Konturen ihres Auftrages, etwa im Bereich der Medizin oder der Psychologie. Das aber sollte heißen, konsequenter die Wirklichkeit zur Orientierung zu machen, weniger die Strategie der Aufdeckung zum Zwecke der Wahrheitsfindung. Sonst verliert man immer - nicht zuletzt das Selbstbewusstsein.

V. Vorschläge zur Verbesserung der Kooperation

So dürfte eigentlich auf der Hand liegen, was sehr konkret zur Verbesserung der Kooperation zwischen Jugendhilfe und Justiz getan werden könnte beziehungsweise sollte. Natürlich hilft (fast) immer, durch die Pflege eines guten persönlichen Kontakts die Bereitschaft zu fördern, sich in die Lage des anderen hineinzuversetzen. Erst wenn diese Bereitschaft da ist, wird den Hinweisen auf die Systemunterschiede überhaupt Gehör geschenkt. Aber ebenso wichtig scheint es mir zu sein, konsequenter zu werden und die Prinzipien des eigenen Tuns offen zu legen - so man sie hat.

Dem steht aber eine alte und unheilvolle Tradition der Jugendhilfe im Weg, nämlich die Bereitschaft, sich zum "Ausputzer" für jegliches Problem machen zu lassen, keine Grenzen aufzuzeigen und zu setzen. Demgegenüber gehe ich von dem Postulat aus: "Kooperation durch Abgrenzung". Will sagen: Zusammenarbeit wird nicht dadurch gefördert, dass man auf jegliche Erwartung irgendwie flexibel reagiert. Die Reaktion ist - zumindest auf Dauer - absehbar: Enttäuschung. Man weckt falsche Erwartungen. Unter bestimmten Bedingungen können sich solche Erwartungen sogar zu Kränkungen steigern, je nach psychischer Disposition. Aber eben solche Konflikteskalationen sind in der Realität keineswegs selten.

Wenn dann auch noch jene eingangs erwähnten Beziehungsschranken ins Spiel kommen - so das unterschiedliche Sozialprestige, die bessere Bezahlung, das brillantere Auftreten usw. -, dann sind wir wieder am Anfang der Frage, warum sich Jugendhilfe und Justiz so oft missverstehen...

Anmerkungen

 

  1. ausführlich dazu Bringewat, Peter: Tod eines Kindes. Soziale Arbeit und strafrechtliche Risiken, Baden-Baden: Nomos (1997); siehe auch Mörsberger, Thomas/ Restemeier, Jürgen: Helfen mit Risiko. Anmerkungen zu einem Strafverfahren gegen eine Sozialarbeiterin in Osnabrück, In: Jugendhilfe, Neuwied: Luchterhand 35 (1997), Nr. 2, S. 85-90
  2. nicht veröffentlichte Entscheidung des Landgerichts Dresden vom 8.Juni 1998 (Freispruch), Az.: 12 Ns 609 Js 50762/96
  3. siehe "Fall Jenny", OLG Stuttgart, Zentralblatt für Jugendrecht, Köln: Heymanns 85 (1998), S. 382; Landgericht Stuttgart vom 17. September 1999 (unveröffentlicht), Az: I (15) KLs 113 Js 26273//96
  4. vgl. Mörsberger, Thomas: Fragen und Erwiderungen, In: SPI (Hrsg.): Jugendämter zwischen Hilfe und Kontrolle, München: Eigenverlag (2001), S. 32 ff. und S. 46 ff; siehe ders: Kinderschutz und das strafrechtliche Haftungsrisiko, In: Zenz, Winfried M./ Bächer, Korinna/ Blum-Maurice, Renate: Die vergessenen Kinder, Köln: PapyRossa Verlag (2002), S. 143 ff.
  5. Auf die Berührungspunkte mit der Verwaltungsgerichtsbarkeit soll hier nicht eingegangen werden. In den entsprechenden Verfahren tauchen nämlich Missverständnisse naturgemäß seltener auf, weil für die Jugendhilfe ausreichend Gelegenheit ist, die Prozessgegenstände aus ihrer Sicht darzustellen und erkennbare Missverständnisse schnell behoben werden können.
  6. sowohl allgemein als Element des Denkens (i.S. von Unterscheidung und Bewertung), aber zum Teil auch - bei förmlichen Bescheiden - mit Bindungswirkung für Dritte
  7. vorher schon insbesondere Schlink, Bernhard: Die Amtshilfe, Berlin: Springer Verlag (1982)
  8. siehe Emrich, Dieter: Die Tätigkeit der Gerichte und der Sozialdatenschutz, In: Frommann, Matthias u.a.: Sozialdatenschutz, Frankfurt/Main: Eigenverlag Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge (1985) S. 113 ff.

 

Autor

Thomas Mörsberger ist Leiter des Landesjugendamtes beim Landeswohlfahrtsverband Baden, Karlsruhe.

Quelle

Aus: Verein für Kommunalwissenschaften (Hrsg.): Die Verantwortung der Jugendhilfe zur Sicherung des Kindeswohls. Berlin 2002, S. 33 ff. Eingestellt am 15.04.2003, überpüft im März 2015