Das Elternrecht als Inhalt und Grenze der Jugendhilfe

Peter-Christian Kunkel

1 Elternrecht als Elternverantwortung

Das in Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG geregelte Elternrecht ist kein eigennütziges Recht wie die übrigen Grundrechte, sondern ein fremdnütziges Recht, das darin besteht, das Kindeswohl zu verwirklichen. Das Bundesverfassungsgericht1 spricht daher von "Elternverantwortung". Über die Betätigung des Elternrechts wacht die staatliche Gemeinschaft (sog. Wächteramt aus Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG). Dieses Wächteramt verpflichtet (präventiv) zu Leistungen und (repressiv) zu Eingriffen.

Zu Eingriffen ist das Jugendamt nicht berechtigt; solche kann nur das Familiengericht vornehmen (§ 1666 BGB). Die Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII ist lediglich eine vorübergehende Maßnahme des Jugendamts bei Gefahr im Verzug. Sie ist nur möglich, wenn das Familiengericht nicht rechtzeitig zu erreichen ist und muss von diesem nachträglich bestätigt werden.

1.1 Beratung und Elternrecht

Die Eltern haben das Recht, Pflege und Erziehung "nach ihren eigenen Vorstellungen frei zu gestalten".2 Der Berater muss daher die Eltern über Durchführung und Inhalt der Beratung informieren ("informierte Beratung"). Die Schweigepflicht des Beraters (näher unter C.) kann deshalb nur in Ausnahmefällen das grundrechtlich gesicherte Informationsrecht der Eltern beschränken. Allein die Gefährdung von Gesundheit und Wohlergehen des Kindes reicht dafür nicht aus.4 § 8 Abs. 3 SGB VIII lässt daher eine Beratung des Kindes ohne Wissen seiner Eltern nur zu, wenn eine "Not- und Konfliktsituation" besteht. Bei dieser Not- und Konfliktsituation darf die Beratung auch nur so lange ohne Wissen der Eltern erfolgen, wie die Information der Eltern das Kindeswohl gefährden würde. Ist eine länger andauernde (i. d. R. 6 Monate) Beratung ohne Wissen oder gar gegen den Willen der Eltern erforderlich, muss ein Eingriff in das Elternrecht durch das Familiengericht gemäß § 1666 BGB die weitere Beratung legitimieren. Die Konfliktsituation muss zu der Notsituation hinzutreten.3 Ob sie vorliegt, muss der Berater beurteilen, indem er alle Umstände des Einzelfalls in Erwägung zieht, z. B. Alter und Reife des Kindes sowie seine Stellung innerhalb der Familie. Der Berater muss die Familie so gut kennen, dass er die Folgen einer Information der Eltern aufgrund konkreter Tatsachen richtig einschätzen kann. Sind die Eltern nicht völlig verbiestert, muss er zunächst versuchen, auf sie einzuwirken, sich der Nöte des Kindes anzunehmen.4 Mediation kann dabei hilfreich sein.5 Nur wenn konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass bei Information der Eltern eine körperliche oder seelische Schädigung des Kindes wahrscheinlich ist, kann diese Information unterbleiben. Diese Anhaltspunkte müssen dokumentiert werden. Bei der Bewertung hat der Berater weder Ermessen noch Beurteilungsspielraum; vielmehr unterliegt sie gerichtlicher Nachprüfung.

1.2 Beratungsmündigkeit

Mit zunehmendem Alter und wachsender Reife des Kindes tritt das Elternrecht als pflichtgebundenes Recht allmählich zurück (§ 1626 Abs. 2 BGB). Als ein Recht, das um des Kindes und dessen Persönlichkeitsentfaltung willen besteht, liegt es in seiner Struktur begründet, dass es in dem Maße, in dem das Kind in die Mündigkeit hineinwächst, überflüssig und gegenstandslos wird.6 Für einzelne Handlungsbereiche wird dem Kind daher schon eine Teilmündigkeit eingeräumt (z.B. Religionsmündigkeit nach § 5 RelKErzG; Beschwerderecht nach § 60 FamFG; Handlungsfähigkeit nach § 36 SGB I), die sich nach einem bestimmten Alter richtet. Für den Handlungsbereich der Beratung kann man nicht generell ein bestimmtes Alter festlegen, sondern muss individuell auf den Gegenstand der Beratung und die Reife des Kindes abstellen ("gleitende Beratungsmündigkeit").

§ 8 Abs. 3 Satz 2 SGB VIII lässt § 36 SGB I unberührt. Dies bedeutet, dass der Jugendliche unabhängig von einer Not- und Konfliktsituation ab 15 Jahren die Beratung als Sozialleistung (also beim Schulsozialarbeiter) beantragen kann. Dies kann auch formlos geschehen; es reicht aus, dass er den Willen äußert, beraten zu werden. Die Eltern müssen davon allerdings verständigt werden (§ 36 Abs. 2 SGB I), um ein "Veto" einlegen zu können.7

2 Schweigepflicht

2.1 Berufsgeheimnisträger

Der strafrechtlichen Schweigepflicht nach § 203 Abs. 1 StGB unterliegen nur die Angehörigen einer dort genannten Berufsgruppe ("Berufsgeheimnisträger"). Dazu gehören Berater nur, wenn sie Ehe-, Familien- oder Jugendberatung in einer anerkannten Beratungsstelle leisten (Abs. 1 Nr. 2) oder als Suchtberater in einer Beratungsstelle (Abs. 1 Nr. 3). Schulsozialarbeiter sind Berufsgeheimnisträger nach Abs. 1 Nr. 5. Sie sind aber nur schweigepflichtig, wenn ihnen gerade in dieser Eigenschaft als Sozialarbeiter ein Geheimnis anvertraut worden ist. Voraussetzung dafür ist, dass der anvertrauende Schüler diese berufliche Qualifikation kennt. Die Sozialarbeiterin darf dann ein Geheimnis nicht unbefugt offenbaren. Unbefugt offenbart sie ein Geheimnis, wenn sie keine Offenbarungsbefugnis hat. Eine solche kann sich ergeben aus Einwilligung (sog. Schweigepflichtentbindung), gesetzlichen Mitteilungspflichten oder -befugnissen, rechtfertigendem Notstand oder dem Elternrecht.

2.2 Einwilligung

Die Einwilligung ist eine Entbindung von der Schweigepflicht ("Schweigepflichtentbindung"). Die Einwilligung muss von der Person gegeben werden, die das Geheimnis anvertraut hat. Als tatsächliche Handlung setzt sie nicht Geschäftsfähigkeit voraus, kann also auch von Minderjährigen gegeben werden, wenn sie die dafür notwendige Einsicht haben. Diese Einsichtsfähigkeit ist nicht gleichzusetzen mit der sozialrechtlichen Handlungsfähigkeit, die Minderjährige ab 15 Jahren haben (§ 36 SGB I). In dem Maße, in dem das Kind in die Mündigkeit hineinwächst, tritt das Elternrecht zurück (s.o. 1.2). Da die Entscheidungsfähigkeit des Jugendlichen sich für die verschiedenen Lebensbereiche unterschiedlich entwickelt, ist jeweils eine Abwägung zwischen Erziehungsbedürftigkeit und Selbstbestimmungsfähigkeit des Jugendlichen erforderlich. Dabei gilt der Grundsatz, dass der zwar noch Unmündige, aber schon Urteilsfähige die ihm um seiner Persönlichkeit willen zustehenden Rechte eigenständig ausüben können soll.7

Die Einwilligung kann auch stillschweigend (konkludent) erfolgen. Dies ist dann der Fall, wenn die Eltern (soweit es auf deren Einwilligung ankommt) beispielsweise am Anfang des Schuljahres über die Aufgabe des Schulsozialarbeiters oder des Beratungslehrers informiert worden sind und nicht widersprochen haben.

2.3 Gesetzliche Mitteilungspflicht oder -befugnis

Es besteht keine Mitteilungspflicht von Straftaten. § 138 StGB beschränkt die Mitteilungspflicht nur auf geplante Straftaten, die enumerativ in § 138 StGB aufgeführt sind. Dazu gehören nicht Betrug oder Kindesmisshandlung oder Drogendelikte. Eine Mitteilungsbefugnis kann sich aber für Berufsgeheimnisträger aus Art. 1 § 4 BKiSchG (= § 4 KKG8) ergeben. Sie besteht allerdings nur gegenüber dem Jugendamt und setzt ein dreistufiges Verfahren voraus.

In § 4 Abs. 1 Nr. 7 KKG sind auch Lehrer als Berufsgeheimnisträger genannt. Dies ist unverständlich, da Lehrer keine Schweigepflicht nach § 203 Abs. 1 StGB haben, also auch keiner Offenbarungsbefugnis bedürfen. Sie können allenfalls als Amtsträger nach § 203 Abs. 2 StGB schweigepflichtig sein (siehe hierzu unten 2.6).

2.4 Rechtfertigender Notstand

Unabhängig von der gesetzlichen Mitteilungsbefugnis nach § 4 KKG besteht eine Offenbarungsbefugnis aus rechtfertigendem Notstand (§ 34 StGB). Dieser ist dann anzunehmen, wenn die Schweigepflicht hinter einem höherrangigem Rechtsgut zurück treten muss. Dies ist der Fall bei einer Gefährdung des Kindeswohls i. S. des § 1666 BGB.

2.5 Elternrecht

Wie oben unter 2.2.1 dargestellt, endet die Schweigepflicht am Elternrecht. Das Elternrecht bewirkt eine Offenbarungsbefugnis, die für den Berater zugleich Informationspflicht ist. Dies gilt aber nicht, wenn die dort genannten Voraussetzungen vorliegen, also bei einer Not- und Konfliktsituation oder bei Hineinwachsen des Minderjährigen in individuelle "Beratungsmündigkeit".

2.6 Amtsträger (§ 203 Abs. 2 StGB)

Amtsträger ist jede im öffentlichen Dienst stehende Person (§ 11 StGB), also auch ein Schulsozialarbeiter, der beim öffentlichen Träger der Jugendhilfe angestellt ist oder ein Lehrer, nicht aber ein Schulsozialarbeiter, der bei einem freien Träger angestellt ist. Amtsträger haben eine Offenbarungsbefugnis dann, wenn Berufsgeheimnisträger eine solche haben und darüber hinaus, wenn eine datenschutzrechtliche Übermittlungsbefugnis vorliegt.

3 Datenschutz

Der Datenschutz wird für die Schule im Schulgesetz und - ergänzend - im Landesdatenschutzgesetz geregelt. Schulsozialarbeiter nehmen aber keine Aufgaben der Schule, sondern der Jugendhilfe nach dem SGB VIII wahr. Soweit sie beim öffentlichen Träger der Jugendhilfe angestellt sind, gilt für sie der Sozialdatenschutz nach dem Sozialgesetzbuch. Sie sind nach § 35 SGB I i.V. m. § 61 SGB VIII verpflichtet, das Sozialgeheimnis zu wahren ("originäre Bindung").

Hat der öffentliche Träger Aufgaben der Schulsozialarbeit auf freie Träger übertragen, muss er sicherstellen, dass der freie Träger das Sozialgeheimnis ebenso wahrt wie der öffentliche Träger (§ 61 Abs.3 SGB VIII). Dies geschieht in der Regel durch Sicherstellungsvereinbarung, also durch öffentlich-rechtlichen Vertrag (§ 53 SGB X), könnte aber auch durch Verwaltungsakt (§ 31 SGB X) angeordnet werden ("derivative Bindung").

Eine Übermittlung von Daten darf nur erfolgen, wenn eine Einwilligung vorliegt oder wenn eine gesetzliche Übermittlungsbefugnis nach §§ 68-75 SGB X i.V. m. §§ 61, 64 SGB VIII die Übermittlung erlaubt (§ 35 Abs.2 SGB I). Ein personenbezogenes Datum darf die Schulsozialarbeiterin einem Dritten (Kollegen, Lehrer, Schulleiter, Jobcenter) übermitteln, wenn sie damit ihre eigene ("eigennützige Übermittlung") oder die Aufgabe des Dritten ("fremdnützige Übermittlung") nach einem Buch (Zweites bis Zwölftes Buch) des Sozialgesetzbuchs erfüllt (§ 69 Abs. 1 Nr. 1 SGB X). In der Regel wird sie ihre Aufgabe nach § 13 SGB VIII (Schulsozialarbeit) erfüllen. Bei gewichtigen Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung kann (und muss) sie die Daten dem Allgemeinen Sozialen Dienst im Jugendamt übermitteln, damit das Jugendamt den Schutzauftrag nach § 8a SGB VIII erfüllen kann.

Hat die Schulsozialarbeiterin ein personenbezogenes Datum aber im Rahmen eines Gesprächs persönlich anvertraut bekommen, kann sie die anvertrauten Daten nur unter den (zusätzlichen) Voraussetzungen des § 65 SGB VIII weitergeben. Eine Weitergabebefugnis liegt dann vor, wenn eine Offenbarungsbefugnis nach § 203 Abs. 1 StGB gegeben wäre, also insbesondere bei Einwilligung oder bei Kindeswohlgefährdung (s.o. bei 2.4.).

Endnoten

  1. BVerwGE 24, 119 (143).
  2. BVerfGE 24, 119; 31, 94; 47, 46. BVerfGE 59, 360.
  3. Näher Kunkel, LPK-SGB VIII, 5. Aufl. 2014, § 8 Rn.19; Münder/Meysen/Trenczek, FK-SGB VIII, 7. Aufl. 2012, § 8 Rn. 9.
  4. In diesem Sinn auch BVerfGE 59, 360.
  5. So Wiesner, SGB VIII, 4. Aufl. 2011, § 8 Rn. 44.
  6. So Böckenförde: Elternrecht-Recht des Kindes-Recht des Staates. Zur Theorie des verfassungsrechtlichen Elternrechts und seiner Auswirkung auf Erziehung und Schule. In: Essener Gespräche, Bd. 14 (1980), S. 67. 9 Der (gebräuchliche) Begriff der "Teilmündigkeit" ist daher irreführend.
  7. So BVerfGE 59, 360.
  8. Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz.

Hinweis

Veröffentlicht am 06.04.2015