Zur therapeutischen Wirksamkeit von Pflegefamilien

Christoph Malter

1. Hintergründe zur Vermittlungspraxis von verhaltensauffälligen Kindern

Verhaltensgestörte ältere Kinder oder Jugendliche werden nur selten in eine Pflegefamilie vermittelt. Sozialpraktiker nennen dafür unterschiedliche Gründe. Sie seien für Familien nicht tragbar und dort kaum zu integrieren. Das Risiko des Scheiterns einer Pflegebeziehung sei erheblich. Außerdem gäbe es zu wenig geeignete Bewerberfamilien. Das sind nur einige der häufig genannten Gründe, die sich auch in der Bundesstatistik widerspiegeln: Während bei der Fremdunterbringung von Kindern bis zu einem Jahr das Verhältnis bei 2:1 zugunsten von Pflegefamilien liegt, ist es bei der Altersgruppe der 9- bis 12-Jährigen schon umgekehrt, mit steigender Tendenz. Anders ausgedrückt: Je älter ein Kind zum Zeitpunkt der Fremdunterbringung, um so größer die Wahrscheinlichkeit in Heimpflege zu landen (Statistisches Bundesamt, 2000).

2. Entwicklungspsychologische Erkenntnisse über die Folgen von Misshandlung und Vernachlässigung

Unstrittig sind heute in Fachkreisen die verheerenden Folgen von Vernachlässigung und Misshandlung in früher und frühester Kindheit sowie die langanhaltenden Folgen von Mutterentbehrung (maternal deprivation) besonders in den ersten 5 Lebensjahren. Eva Maria Spitz-Blum resümiert das Werk ihres berühmten Vaters folgendermaßen: "In Büchern, Vorträgen und Filmen zeigte mein Vater, dass Babys auf die zuverlässige Betreuung durch ihre Mütter angewiesen sind... Kein Wunder also, dass mein Vater die Validität seiner Säuglingsbeobachtungen, die er in der familiären Umgebung der Kinder, oder in Kranken- und Waisenhäusern durchführte, mit Hilfe von Filmen unter Beweis stellte... In jener Zeit, während der fünfziger Jahre, fiel es den Menschen schwer zu glauben, dass Säuglinge auf eine zuverlässige Betreuung angewiesen sind, um sich normal entwickeln zu können. Dass ihnen die Trennung von der Mutter Schaden zufügt, war damals noch nicht allgemein anerkannt" (Spitz-Blum in Spitz, 2000, S. 9ff.).

Heute wissen wir viel mehr über komplexe Zusammenhänge und schädigende Einflüsse während frühkindlicher Entwicklungsphasen. August Aichhorn (1951), Melanie Klein (1972, 1973), Anna Freud & Dorothy Burlingham (1982), René Spitz (1945, 1946), S. u. E. Glueck (1950), David Winnicott (1964), Erik Erikson (1961), Annemarie Dührssen (1958), Magret Mahler (1983), John Bowlby (1951, 1969, 1973), James Robertson (1970), Mary Ainsworth (1962), Leon Yarrow (1977), Klaus Hartmann (1977) sowie Klaus & Karin Grossmann (1991) gehören mit einer Vielzahl von Untersuchungen und Publikationen zu den anerkannten Bindungsforschern der Vergangenheit und Gegenwart. Emil Schmalohr hatte bereits 1968 in seiner Monographie "Frühe Mutterentbehrung bei Mensch und Tier" die epochemachenden Arbeiten von Spitz und Bowlby gewürdigt und auf eine Vielzahl von Folgestudien hingewiesen. Fast vergessen scheinen die frühen Warnungen von Marie Meierhofer und Wilhelm Keller, "...dass fortgesetzte Frustrationen grundlegender Bedürfnisse im ersten Lebensjahr zu somatischen und psychischen Störungen und Beeinträchtigungen der gesamten Entwicklung führen. Das wäre nun nicht gravierend, wenn diese Mängel in der späteren Entwicklung leicht aufgeholt werden könnten. Ebendies ist jedoch nicht der Fall" (Meierhofer & Keller, 1970, S. 228).

Auch Untersuchungen jüngeren Datums belegen, dass "...die vorteilhaften Unterschiede, die Kinder mit einer sicheren Bindung zur Mutter mit einem Jahr kennzeichnen,... auch noch mit 10 Jahren (Grossmann & Grossmann, 1991) und mit 15 Jahren (Urban, Carlson, Egeland & Soufre, 1991)...." vorhanden sind, und "...Kindern, die zu beiden Eltern eine sichere Bindung hatten, ergeht es nochmals besser... (Suess u.a., 1992)" (Main, 1999, S. 125).

Umgekehrt konstatieren Zeanah und Emde (1993), "...dass Bindungsdesorganisation mehr noch als die ursprünglich von Ainsworth identifizierten unsicheren Bindungsmuster mit Vulnerabilität im Hinblick auf psychopathologische Entwicklung zu tun haben" (Main, 1999, S. 139).

Vernachlässigung, Misshandlung und Missbrauch haben substantielle psychische und physische Folgen. Im Gegensatz zu ignoranten Behauptungen in einschlägigen sozialpädagogischen Texten (vgl. z.B. Schone u.a., 1997) gibt es mittlerweile eine Fülle aussagekräftiger Forschung, die Martin Dornes folgendermaßen bilanziert: "Es besteht Übereinstimmung darin, dass die verschiedenen Formen von Kindesmisshandlung langfristig (und kurzfristig) erhebliche negative Auswirkungen auf die weitere seelische Entwicklung haben" (Dornes, 1997, S. 231).

Bedrohungen und Misshandlungen in der Kindheit verursachen darüber hinaus sichtbare hirnorganische Schäden, so die Forschungsergebnisse der Kinderpsychiater Bruce Perry (2000) und Stanley Greenspan (1999).

3. Zur Behandlung der Folgen von Misshandlung und Vernachlässigung

Der Kontroverse darüber, wie bereits geschädigte Kinder behandelt werden können (vgl. Zenz, 2000, 2001), liegt letztendlich die Frage zu Grunde, was bindungsgestörte Kinder zur Ausheilung benötigen.

Zunächst benötigen sie Schutz vor weiteren Verletzungen und Übergriffen (vgl. Stiftung "Zum Wohl des Pflegekindes", 2001, Leitsätze, S. 18). Sie benötigen viel Aufmerksamkeit und positive Zuwendung (vgl. Perry, 2001). Ersteres klingt trivial, ist aber bei Weitem nicht immer realisierbar, wenn man bedenkt, dass oftmals "...Eltern trotz psychotherapeutischer Behandlung die Misshandlung fortsetzten. In der psychodynamisch orientierten Studie von Martin und Beezley (1976), die einen Zeitraum von viereinhalb Jahren nach dem ersten Auftreten der Misshandlung umfasste, misshandelten immerhin noch 68% der in Psychotherapie Befindlichen ihr Kind weiter" (Dornes in Egle et al., 2000, S. 82).

Kinder, die mit Bindungen keine oder sehr schlechte Erfahrungen gemacht haben, brauchen neue Bindungserfahrungen, die liebevoll und verlässlich sind (vgl. a. Nienstedt, Westermann, 1990). Aus bitteren Erfahrungen werden aber vernachlässigte und traumatisierte Kinder solchen Angeboten ausweichen und sie sogar bekämpfen. Das ist ihre Art, sich vor weiteren Enttäuschungen zu schützen.

Aus der Resilienzforschung wissen wir, dass Kinder auch unter widrigen Lebensumständen psychisch intakt bleiben und sozial erfolgreich werden konnten (Werner & Smith 1989, 1992). Als wichtigster protektiver Faktor kristallisierte sich die stabile emotionale Beziehung zu einer Bezugsperson heraus. Das spricht für die therapeutische Nutzung von Pflegefamilien.

Auch sonst gibt es Untersuchungen an Pflegekindern, die uns Grund zu der Annahme geben, dass Pflegefamilien therapeutisch wirken. Eine Studie von White, Benedict & Jaffe (1987) ergab, dass sich Pflegekinder in Langzeitpflege (nach mindestens 18 Monaten) in einem besseren Allgemeinzustand befanden als neu aufgenommene. Astrid Wieser (2000) fand bei 45 Pflegekindern zu Beginn eines Pflegeverhältnisses deutliche Defizite in der psychosozialen Entwicklung und auffallende Rückstände in der Sprachentwicklung im Gegensatz zu den Befunden in ihrer parallelisierten Kontrollgruppe. Hinsichtlich der Sprachentwicklung zeigte sich ein positiver Zusammenhang zwischen Dauer der Unterbringung und sprachlicher Entwicklung.

Katja Rauch (2000) betont: "Pflegeeltern können deshalb nur eines tun: das herausfordernde Verhalten des Kindes aushalten. Der einzige Weg, dieses Verhalten mit der Zeit vielleicht zu ändern, führt über die Beziehung. Wenn das Kind die Erfahrung machen kann, dass es in der neuen Beziehung zu den Pflegeeltern voll und ganz akzeptiert ist, dass es verstanden und umsorgt wird und sich auf sie verlassen kann, wird es ihm möglich, seine mitgebrachten Überlebensstrategien aufzugeben" (Rauch, 2000).

Über die therapeutischen Erfahrungen mit Pflegefamilien im Intensivpädagogischen Programm (IPP) der Arbeitsgemeinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP) soll in den folgenden Abschnitten berichtet werden.

4. Die Forschung der AGSP und Konzeptentwicklung des IPP

Die AGSP kann auf eine langjährige Forschungsgeschichte zurückschauen. Mit der in Berlin unter Leitung des Psychoanalytikers und Psychiaters Klaus Hartmann (1977) durchgeführten repräsentativen Studie an mehr als 1.000 dissozialen Jugendlichen knüpft sie in direktem Kontakt zu dem Ehepaar Sheldon & Eleanor Glueck (1950) an die internationale Dissozialitätsforschung an: "...Vertrauen verdient hier die Arbeit von Glueck, wonach der Verlust eines Elternteils durch Tod, Trennung oder längere Abwesenheit vor dem 5. Lebensjahr unter kriminellen zweimal so oft vorkommt wie unter nichtkriminellen Jugendlichen. Auch ein Elternverlust (nicht nur Mutterverlust) zwischen dem 5. und 10. Lebensjahr kommt unter kriminellen Jugendlichen signifikant häufiger vor" (Schmalohr, 1972, S. 96).

Die aus dieser Forschungsgeschichte von dem Ehepaar Eberhard & Eberhard entwickelte Konzeption des Intensivpädagogischen Programms (IPP) für Pflegekinder (vgl. Eberhard & Eberhard, 2000) ist somit eine bereits in den siebziger Jahren vollzogene theoretische und praktische Konsequenz aus der psychoanalytischen Bindungslehre einerseits und der internationalen Dissozialitätsforschung andererseits. Verhaltensauffällige, aber noch nicht generalisiert dissoziale Jugendliche dauerhaft in sozialpädagogisch und psychotherapeutisch betreute Pflegefamilien zu vermitteln, verfolgt das Ziel, Kindern, die nie eine psychosozial intakte Familie kennengelernt haben und nie die Chance hatten, verbindliche Liebesbeziehungen zu erleben, eine Möglichkeit zu eröffnen, diese Erfahrungslücke zu kompensieren.

Das Konzept betont die therapeutische Potenz von Pflegeeltern und Pflegekindern: Erst Beziehung, dann Erziehung! Kinder, die keine Liebe und keine Verlässlichkeit erlebt haben, brauchen über lange Zeit wenigstens einen Menschen, der frei von Sozialisationsaufträgen eine liebevolle Vertrauensbeziehung anbietet (vgl. Eberhard u. Eberhard, 2000).

Noch radikaler vertreten Nienstedt und Westermann (1990) die psychotherapeutische Position in der Arbeit mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen. Die Integration des Pflegekindes beginne mit der Entstehung einer therapeutischen Übertragungsbeziehung, d.h. mit der Wiederbelebung und Bearbeitung traumatischer Erlebnisse. Sie bedürfen deshalb kontinuierlicher psychotherapeutisch orientierter Supervision.

5. Das erste Pflegekind im IPP

Am 3. Oktober 1980 wurde das erste Kind 9-jährig im IPP aufgenommen, und 20 Jahre später erzählt die mittlerweile zur Erzieherin ausgebildete junge Frau: "Bei mir ist es nicht so, dass ich irgendeinen Hass für meine leiblichen Eltern hege. Sie konnten vielleicht nicht anders. Ich hatte, bis ich 22 war, noch Kontakt zu meinem leiblichen Vater und hab ihn dann von mir aus abgebrochen, aber nicht aus Streit, sondern weil ich gemerkt habe, das ist nicht das, was ich brauche. Für mich liegen meine Wurzeln bei meiner Pflegemutter... Wir mussten aber alle harte Zeiten durchstehen. Aber wenn man sich überlegt, was wäre, wenn man in der eigenen Familie oder im Heim geblieben wäre und was sich daraus entwickelt hat, dass man zu Pflegeeltern kam, dann ist man heute einmal stolz auf sich selber und unendlich dankbar, dass man diese Möglichkeit hatte, das zu werden, was man heute ist" (vgl. Kohlmetz, 2000).

6. Aufnahmealter und Biografie der Kinder im IPP

Das Aufnahmealter der im IPP aufgenommenen Kinder beträgt im Durchschnitt etwas mehr als 9 Jahre, und die meisten Kinder konnten bis zu ihrem 18. Lebensjahr und darüber hinaus im pflegefamiliären Rahmen aufwachsen (vgl. Eberhard & Eberhard, 2000). Die folgende Vorgeschichte der heute erwachsenen B. ist bei aller Singularität eine recht typische:

Die im Juni 1976 geborene B. konnte 1985 annähernd 9-jährig im IPP aufgenommen werden. Kurz nach der Geburt zog die Mutter mit dem Vater von Mannheim nach Berlin. Ein Jahr später wurde die Familie sozial auffällig und B. kam - 13 Monate alt - im Juli 1977 ins Heim. Im Dezember 1977 gab es zwischen den Eltern Konflikte, die Mutter musste ins Krankenhaus und B. wurde - jetzt 18 Monate alt - in ein Kinderheim verlegt. Nach dem Krankenhausaufenthalt der Mutter ging diese dann mit B. ins Frauenhaus, das sie aber sechs Wochen später ohne B. verließ. B. musste erneut ins Heim. Von dort kam B. zu einer Kurzzeitpflegemutter, und im April 1979 - B. war nun drei Jahre alt - kam sie zur Mutter und dem neuen Lebenspartner in deren Haushalt zurück. Die Familie wurde betreut. 1981 wurde die neue Ehe geschieden. Zwei Monate später heiratete die Mutter einen neuen Partner, und ungefähr zwei Jahre später gab es wieder Schwierigkeiten in der Ehe. B. lebte zwischenzeitig für ca. sechs Monate in Pakistan, dem Herkunftsland des jetzigen Stiefvaters. 1983 - B. war nun sieben Jahre alt - unternahm die tablettenabhängige Mutter einen Suizidversuch, und B. kam in den Kindernotdienst. Bei den folgenden Auseinandersetzungen der Eheleute erlitt der Stiefvater Stichverletzungen, und im Oktober 1984 fand die Klassenlehrerin Misshandlungsspuren bei der nunmehr 8-Jährigen. Einen Monat später wurde B. erneut misshandelt und kam anschließend wieder ins Heim. Ein Jahr später fand sie Aufnahme bei einer allein erziehenden Pflegemutter des IPP. Dort wuchs sie bis zum 19. Lebensjahr auf.

Weitere Erinnerungen, die in meinen Forschungsinterviews mit ihr aufkamen:

als kleines Kind habe sie nichts zu essen bekommen;

von ihren Stiefvätern sei sie geschlagen worden;

sie habe mit angesehen, wie die Mutter sich im Nebenzimmer prostituierte;

für ihre Schwester habe sie Maggiwürfel gestohlen, diese in kaltem Wasser angerührt, und, weil sie erwischt wurde, dafür Prügel bezogen;

sie sei in Pakistan verlobt worden;

ihr letzter Stiefvater sei immer nur betrunken gewesen.

B. hatte Angst vor Männern, und versagte in der Schule. Auch war sie immer wieder in Prügeleien mit anderen Mitschülern verwickelt. Mehrere Schulwechsel wurden wegen ihrer provokativen Haltung notwendig. Sie "verschliss" fünf Nachhilfelehrerinnen ohne den gewünschten Erfolg. Anfänglich konnte sie nicht fassen, dass das Essen, das für sie bereitet war, ihr niemand wegnahm.

Das Typische dieser Lebensgeschichte liegt darin, dass sie zahlreiche Vernachlässigungs-, Misshandlungs- und Missbrauchserlebnisse enthält.

7. Besonderheiten bei der Pflegeelternauswahl und -ausbildung

Die Pflegeeltern des IPP werden überwiegend danach ausgewählt, ob sie ihre eigenen Kinder zu liebes- und arbeitsfähigen Menschen herangebildet haben. Weil alle Pflegekinder mehr oder weniger traumatisiert sind und erhebliche Störungen des Erlebens und Verhaltens bieten, bekommen die Pflegeeltern ein sonderpädagogisches Erziehungsgeld sowie rund um die Uhr sozialpädagogische und psychotherapeutische Beratung. Sie werden unabhängig von ihrer Vorbildung als professionelle Sozialpädagoginnen honoriert, bilden supervidierte Arbeitskreise und helfen einander. Ferner nehmen sie obligatorisch an der Weiterbildung und Aktionsforschung der AGSP teil (vgl. Eberhard u. Eberhard, 1996).

8. Ergebnisse der empirischen Begleitforschung

Trotz des hohen Aufnahmealters kann das IPP relativ viele dauerhafte Pflegeverhältnisse vorweisen und hat dem am häufigsten reklamierten Mangel der Pflegeerziehung, nämlich dem hohen Abbruchrisiko, erfolgreich entgegengewirkt. Über 60% der aufgenommenen Kinder verbringen mehr als fünf Jahre im IPP. Das sind mehr als doppelt so viele langfristige Pflegebeziehungen als in der Bundesstatistik, die diesbezüglich in den letzten Erfassungszeiträumen mit 27,1% (1991), 30,3% (1993) und 26,6% (1996) recht konstant liegt.

1988 wurde ein umfangreicher Fragebogen zur Erfassung psychosozialer Entwicklungsmerkmale entwickelt, der in regelmäßigen Abständen den Pflegeeltern vorgelegt wurde. 1998 habe ich die Entwicklungstrends derjenigen ausgewertet, für die bis dahin mindestens drei Fragebögen ausgefüllt worden waren.

Zu unserer Überraschung registrierten wir keine signifikant negativen Entwicklungstrends. Allerdings gab es in den Persönlichkeitsbereichen "Bindungsprobleme" und "Impulsivität und Labilität" nicht die erwünschte positive Entwicklung.

Bei 21 von den insgesamt 78 Merkmalen - nämlich in den Merkmalsyndromen "Soziale Anpassung nach außen", "Zugang zu eigenen Gefühlen" und "familiäre Identität in der Pflegefamilie" - resultierten statistisch signifikante Aufwärtstrends, davon sogar 6 auf dem 1% Niveau!

Ein Überblick:

Merkmale mit signifikant positivem Entwicklungstrend

I. soziale Anpassung nach außen

Tendenz zum Stehlen

Probleme mit Nachbarn

Probleme mit Institutionen und formellen Gruppen

Schwierigkeiten, akzeptiert zu werden

destruktives Verhalten

dissoziale Kontakte

Probleme mit Gleichaltrigen

Verhaltensstörungen

Probleme im Verein

II. Zugang zu eigenen Gefühlen

motorische Unruhe

Schwierigkeiten beim Ausdruck von Gefühlen

unsorgfältig mit sich selbst

Schwierigkeiten im Austausch von Zärtlichkeit

Probleme mit der Geschlechtsrolle

mangelhaftes Einfühlungsvermögen

Distanzlosigkeit

III. Familiäre Identität in der Pflegefamilie

Probleme mit der Rolle als Pflegekind

Probleme mit Beruflichkeit des Erziehungsverhältnisses

Probleme mit der Bezahlung der Erziehungsarbeit

problematisches Verhältnis zu Verwandten der Pflegefamilie

problematisches Verhältnis zur Ursprungsfamilie

Merkmale mit negativem bzw. nicht positivem Entwicklungstrend

IV. Bindungsprobleme

Tendenz zu Misstrauen

Probleme mit dauerhaften Beziehungen

Probleme mit Partnerschaftsbeziehungen

Probleme mit den Pflegeeltern

taktisches Lügen

mangelhafte Konfliktfähigkeit

V. Impulsivität und Labilität

Gefühlsschwankungen

mangelhafte Frustrationstoleranz

Unordnung

unwirtschaftlicher Umgang mit Geld

Suchttendenzen

Tendenz zu Ängsten

Tendenz zu psychosomatischen Reaktionen

(vgl. Malter & Eberhard, 2001)

9. Impulse zur Diskussion

Traumatisierte Kinder benötigen dringend Pflegeeltern, die wie die Pflegefamilien des IPP bereit und fähig sind, ältere verhaltensgestörte Kinder langfristig aufzunehmen (vgl. a. Stiftung "Zum Wohl des Pflegekindes", Leitsätze, S.18, 2001). "Der quantitative und qualitative Ausbau dezentralisierter Heime mit Erziehungsstellen und psychotherapeutisch betreuter Pflegestellen sollte vorangetrieben werden. In einem 20-jährigen wissenschaftlich begleiteten Pflegekinderprojekt für psychisch traumatisierte Kinder haben wir empirisch belegt, dass das vielzitierte Abbruchrisiko in Pflegefamilien erheblich gesenkt und die soziale Entwicklung der psychophysisch behinderten Kinder signifikant gefördert werden konnte" (Eberhard, Eberhard & Malter, 2001, S. 36).

Demgegenüber zeigt der jüngste vom Statistischen Bundesamt ausgewiesene Trend steigende Zahlen bei der Fremdunterbringung im Heimbereich, den Rückgang von Pflegefamilienerziehung und Adoptionen sowie ein höheres Aufnahmealter bei Fremdplatzierung bei einer kürzeren durchschnittlichen Verweildauer (vgl. a. Janze, 1998).

Das IPP ist nicht nur ein Modell, das sich durch nachgewiesene Wirksamkeit auszeichnet. Es arbeitet auch wesentlich ökonomischer als die traditionelle Heimerziehung. Viele von Fachkräften schon lange eingeforderte Standards für Pflegefamilien werden eingelöst, wie z.B. Beiträge zur Rentenversicherung für Pflegeeltern, kontinuierliche Qualifizierung, praktische Unterstützung u.v.a.m. Deshalb ist das IPP kostenintensiver als die herkömmliche Pflegefamilienerziehung. Wegen ihrer finanziellen und personellen Angebote hatte die AGSP aber bisher auch keine Probleme, genügend Pflegeeltern anzuwerben. Hierzu auch Salgo: "Leider werden auch nicht in allen Jugendämtern die Chancen zur fachlichen Qualifikation dieses sensiblen Bereichs mittels Beratung und Unterstützung von Zusammenschlüssen der Pflegeeltern genutzt, obwohl Jugendämter hierzu gesetzlich verpflichtet sind (§§ 37 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. § 23 Abs. 4). Die Potentiale an Pflegefamilien sind keineswegs überall erschöpft, vielmehr verfügen Jugendämter, die in die Werbung, Beratung und Qualifikation investieren und Pflegeeltern wirklich als Partner der Jugendhilfe behandeln, nach wie vor über geeignete Pflegefamilien; ein beklagter Mangel an geeigneten Vollzeitpflegestellen ist oft Indiz für mangelnde Aktivitäten in den genannten Bereichen" (Salgo, 2001, S. 55).

Für Kinder mit desorganisiertem Bindungsverhalten ist der im internationalen Recht gesetzte Akzent des "Permanency Planning", also die Sicherung der Dauerhaftigkeit der Lebensumstände, besonders wichtig. Er findet seinen Niederschlag in der mittlerweile auch in Deutschland ratifizierten UN-Kinderrechtskonvention (vgl. Maywald, 2001).

Vielerorts gestaltet sich die nachhaltige Planung der Jugendhilfe in Kombination mit der Perspektivensicherung für das jeweilige Kind problematisch. Diese ist belastet durch das konfliktträchtige Thema Umgangsrecht des Kindes mit den leiblichen Eltern. Aber das Umgangsrecht und die Aufarbeitung der Traumata geraten oft in Widerspruch zueinander. Vorrang hat stets das verfassungsrechtlich abgesicherte Wohl des Kindes. Mancherorts wird mit Absolutheitsanspruch das Dogma aufgestellt, dass ein Kind, das keinen Umgang zu seinen leiblichen Eltern pflegt, eine negative Entwicklung nehmen müsse. Die schädigenden Einflüsse belastender Umgangsregelungen werden bagatellisiert - oder von anderer Seite - dramatisiert. Die Fachdiskussion ist kontrovers.

Die in der Praxis derzeit vorherrschende Überbetonung des Elternrechtes vor den Kindesinteressen bleibt aber nicht ohne Wirkung bei Umgangsarrangements. Praxis und Forschung stehen sich in dieser Hinsicht diametral gegenüber.

Eine Längsschnittstudie an Scheidungskindern der amerikanischen Forscherinnen Wallerstein & Lewis (2001) brachte hervor, dass die langfristigen negativen Folgen von Umgangsansprüchen allzu leichtfertig übersehen wurden. Die Kinder der Wallerstein-Studie waren ursprünglich unauffällige Kinder. Aber sie litten erheblich unter von Fachkräften empfohlenen und Richtern festgelegten Umgangsregelungen, so dass sich ihre Störungen z.T. noch auf die Entwicklung ihrer eigenen Kinder auswirkte.

Um Missverständnissen vorzubeugen: natürlich haben Pflegekinder ein Recht auf Umgang zu ihren Eltern und die biografische Aufarbeitung ihrer Lebensgeschichte. Die Entwicklung heilsamer Bindungen in der Pflegefamilie ist aber oftmals nur dann möglich, wenn Eltern ihre Kontaktwünsche für eine gewisse Zeit zurückstellen. Die Eltern können sich im IPP jederzeit bei der Projektleitung über die Entwicklung ihrer Kinder informieren. Sie werden sozialpädagogisch beraten, um sie auf eine verantwortliche, die therapeutische Arbeit der Pflegefamilie unterstützende Umgangspraxis vorzubereiten.

Viele Pflegekinder erlebten wiederholt bittere Enttäuschungen, wenn Termine von den Eltern nicht eingehalten, Versprechen nicht eingelöst und Loyalitätskonflikte geschürt wurden. T. hat, wie in Kapitel 5 schon beschrieben, den Kontakt zu ihrem Vater ohne Streit beendet. B. erlebte 16-jährig einen ihrer Stiefväter in seiner verwahrlosten Wohnung wenige Wochen vor seinem Tod infolge von Alkoholismus. Sie "will nicht auf der Straße enden", erzählte sie kurz nach der Begegnung. Der 24-jährige M., er absolviert gerade eine Ausbildung zum Bürokaufmann, bekannte in einer Podiumsbefragung während des 20jährigen IPP-Jubiläums: "Bei mir ist es so, dass ich aus einer Familie gekommen bin, wenn man es Familie schimpfen kann, die sehr viel Schwierigkeiten mit sich selbst hatte, die mir überhaupt keine Beachtung geschenkt hat, weder in der Liebe noch in den Grundbedürfnissen. Mein Vater wollte mich kontaktieren, das ist jetzt ein paar Jahre her, ich habe den Kontakt freiwillig untersagt, ich habe gesagt, dass ich zu meinen Eltern keinen Kontakt haben möchte und dass es mich noch immer schmerzt, wenn ich an diese Eltern erinnert werde. Ich gehöre zu meiner Pflegefamilie und bin dort sehr glücklich. Meine Beziehung zur biologischen Familie habe ich abgebrochen und möchte daran auch nie etwas ändern" (vgl. Kohlmetz, 2000).

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Adresse

Christoph Malter
Hauptstraße 6
24405 Mohrkirch
Email: malter@agsp.de
Website: http://www.agsp.de
Publikationsliste: http://www.agsp.de/UB_Veroffentlichungen/Publikationsliste/publikationsliste.html

Quelle

Aus: Kindeswohl, Fachzeitschrift für das Pflege- und Adoptivkinderwesen 2001, Jg. 15, Heft 3, S. 7-12. Eingestellt am 29.10.2002, überprüft im März 2015